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"Vereinsamt" Nietzsche - Referat
Vereinsamt
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt - ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
Weh dem, der keine Heimat hat!
Friedrich Nietzsche
Das Gedicht „Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche, 1884 erschienen, beschreibt den Verlust der Heimat eines Menschen, der die Freiheit suchte und jetzt einsam in der weiten Welt keine Geborgenheit hat. Damit stellt das Gedicht den zerrissenen Charakter des Autors dar.
Ein Mensch ließ sich von der lockenden Freiheit verleiten, die Heimat vor dem Winter zu verlassen. Das lyrische Ich klagt nun über diese Torheit, denn der Mensch irrt nur in der Welt und muss sein Leiden verstecken.
Die sechs Strophen, jede aus vier Versen bestehend, die mit einem Kreuzreim verbunden sind, ergeben eine geordnete Welt, die für das lyrische Ich überschaubar ist. Deshalb beschreibt es dem angesprochenen Menschen die Situation, in der sich dieser befindet. Die Zirkelstruktur unterstützt die Steigerung innerhalb des Gedichts und der letzte Vers: „Weh dem, der keine Heimat hat!“ ist im Vergleich zum letzten Vers der ersten Strophe: „Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!“ eine Erkenntnis, die aus der sich steigernden Beschreibung der existenzieller Not entspringt. Der Jambus entspricht dem rhythmischen Vorwurf, der einem entflohenen Menschen hinterher hallt. Die männliche Kadenz, die durch den Jambus bedingt ist, verleiht diesem Vorwurf mehr Nachdruck. Insgesamt überwiegen die Vokale a, o und u und schaffen eine dunkle Atmosphäre.
Der Leser wird mit dem Titel von Anfang an darauf eingestellt, dass der Inhalt von Isolation und Entfremdung handelt. Die Vereinsamung stellt einen Prozess dar, die vereinsamte Person war also vorher nicht allein und ist erst durch ein Ereignis – in diesem Fall die aktive Entscheidung, die Heimat zu verlassen – einsam geworden.
Gleich in der ersten Strophe werden die Gefahr und das Unheilvolle aufgezeigt, denn die Krähen sind ein Symbol für das Unheil beziehungsweise sie sind dessen Vorboten. Sie „ziehen schwirren Flugs zur Stadt“ und deren schwirrende Bewegung erweckt den Eindruck, dass die Stadt von einer großen Anzahl von Krähen aus der ganzen Umgebung überschwemmt wird, von Unheil also überzogen wird. Das Unheil, das sie bringen, ist der Schnee, der bald kommt. Dieser steht für den Wintereinbruch. Der Aufbau, der durch die abwechselnden zwei- und vierhebigen Verse geprägt ist, verstärkt den Eindruck, dass bestimmte Ereignisse, zum Beispiel die Ankunft der Krähen und der Schnee, langfristige Folgen haben. Diese werden in den vierhebigen fallenden Versen beschrieben und der Auslöser in den steigenden zweihebigen Versen.
Die Vereinsamung ist auch eine Folge der Tatsache, dass der Angesprochene die Heimat verlassen hat. Das ist aber ein Vorbote davon, dass ihm andere Stadtbewohner folgen könnten, denn die Krähen bringen diese Gefahr in die Stadt und diejenigen, die „jetzt noch – Heimat“ haben, könnten auch aufbrechen. Auf dieses mögliche Ereignis wird hingewiesen, indem das „noch“ mit einem Spiegelstrich abgetrennt wird und eine Pause schafft. Sie lässt den Ausruf „Heimat hat!“ einzeln stehen und sehnsüchtig klingen.
Die Anklage durch das lyrische Ich entdeckt man in der zweiten Strophe. Der Angesprochene wird als Narr bezeichnet, weil er „vor Winters in die Welt entflohn“ ist. Diese Aussage enthält eine Doppeldeutigkeit, denn entweder bedeutet das die Flucht aus der Heimat vor dem Windereinbruch, oder es ist die Flucht vor dem Winter selbst.
Dieser Narr steht nun „starr“ und schaut „rückwärts“, was ein Gegensatz zwischen dem statischen Verharren und der drehenden Bewegung ist. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf das Stehenbleiben des Angesprochenen, der vorher in Bewegung war. Der Ausruf „ach! wie lange schon!“ stellt nicht nur die lange Zeitspanne dar, sondern sie zeigt auch die weite Entfernung von der Heimat und die Sehnsucht danach.
Die Sehsucht findet sich in der dritten Strophe wieder, allerdings als die Sehnsucht nach der Freiheit, denn das Bild der Welt als Tor eröffnet einem die Welt der grenzenlosen Freiheit. Als der Mensch aber durch das Tor geht, entdeckt er nur die stummen und kalten Wüsten. Die Worte „stumm und kalt“ verstärken die Entfremdung, weil sie abweisend wirken. Das Bild der tausend Wüsten symbolisiert die endlose Leere, die einen umgibt, wenn man sich von der Heimat entfernt, obwohl die Flucht in die Welt erst als ein Tor in die Freiheit mit tausend Möglichkeiten erscheint. Die Welt der grenzenlosen Freiheit stellt sich also als die Welt grenzenloser Verlorenheit heraus.
Das Wort „Tor“ hat hier eine weitere Funktion, denn ein Narr kann auch als „Tor“ bezeichnet werden und dies unterstützt deshalb den Vorwurf, dass es eine Torheit war, durch das Tor in die Welt zu entfliehen. Denn mit dem Verlassen der Heimat hat der Angesprochene etwas Wichtiges verloren, und „wer das verlor, [...] macht nirgends halt“. Das steht aber im Gegensatz zum Verharren auf einer Stelle, das in der zweiten Strophe beschrieben wird. Deswegen lenkt das den Blick auf die Innenwelt der Person, die nirgends halt findet aber auch keinen moralischen Grundsätzen mehr folgt. Der Verlust dieser moralischen Grundsätze wird durch die Wiederholung verdeutlicht, dabei ist allerdings nicht klar, ob sie noch in der Heimat verloren wurden und die Heimat vielleicht deshalb verlassen wurde, da man nicht mehr halt davor machte, durch das Tor zu gehen.
Mit einer Wiederholung des fünften Verses mit einer Variation von „starr“ zu „bleich“ fängt die vierte Strophe an. Da der Vers mit „nun“ eingeleitet wird, trennt dies die vierte Strophe zeitlich von den vorhergehenden ab. Dass der Angesprochene jetzt bleich ist, kann aus der Erkenntnis stammen, dass man etwas verloren hat.
Die Metapher „Winter-Wanderschaft“ verdeutlicht wieder die Einsamkeit in der abweisenden Umgebung, wobei eine Wanderschaft einen Anfang und ein Ziel hat, und eine Winter-Wanderschaft stellt das ewige Irren dar, zu dem man „verflucht“ ist. Dass man stets, also unaufhörlich, „nach kälteren Himmels sucht“, unterstützt das Ewige des Irrens, und die kälteren Himmel stellen keineswegs Geborgenheit dar, die das Ziel einer Wanderschaft bieten sollte.
Der Vergleich mit dem Rauch und die Verbindung über den Kreuzreim mit dem Wort „bleich“ lässt den Wanderer sich auflösen und mit dem - für den Winter üblichen - bleichen Himmel verschmelzen. Auch sind es mehrere Himmel, was die Verlorenheit noch mehr steigert.
Das Bild des Himmels wird am Anfang der fünften Strophe beibehalten und lässt sich mit dem Symbol der Krähen verknüpfen. Ein Vogel, und zwar ein Wüstenvogel, soll fliegen und ein Lied „schnarren“. Der Himmel und der Flug symbolisieren eigentlich Freiheit, diese wird aber mit kreischendem „Wüstenvogel-Ton“ beklagt, denn ein Wüstenvogel ist in der Wüste einsam, vor allem im Vergleich zu den vielen Krähen, die in großer Anzahl schwirren. Hier wird zum zweiten Mal die Wüste als Bild aufgegriffen, das zwar einen Kontrast zum kalten Winter bildet, allerdings gerade deswegen das einzig gemeinsame mit dem Winter – die Leere – darstellt.
Auch die Bezeichnung „Narr“ taucht wieder auf. Dieser soll sein „blutend Herz in Eis und Hohn“ verstecken. Die Anapher „Dein Lied“ und „Dein blutend Herz“ verstärkt die Verbindung zwischen dem 18. und dem 20. Vers, die durch den Kreuzreim schon gegeben ist. Das Leid über sein „blutend Herz“ hört man in seinem Lied und er wäre ein Narr, wenn er sein Leid nicht verstecken würde, indem er eine Schutzmauer aus „Eis und Hohn“ aufrichtet. Würde er sein Leid sichtbar machen, würde er zugeben, mit dem Verlassen der Heimat die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Die durch den Reim bedingte Verknüpfung zwischen „Ton“ und „Hohn“ lässt vermuten, dass das Lied höhnisch klingen müsste.
Insgesamt erfährt in der fünften Strophe die Steigerung durch die fordernden Imperative den Höhepunkt. Die letzte Strophe erscheint dagegen ruhig, weil sie nur eine Wiederholung der ersten Strophe ist, bis auf den letzten Vers. Das Gedicht endet mit dem drohend klingenden Vers: „Weh dem, der keine Heimat hat!“ Dies kann man als eine Aufforderung des lyrischen Ichs verstanden werden, die Heimat nicht zu verlassen, denn die Folgen wurden davor ausführlich beschrieben.
Zusammenfassend kann das Gedicht als eine belehrende Beschreibung bezeichnet werden. Der Prozess der Vereinsamung und die Einsamkeit selbst werden in einer Steigerung dargestellt.
Unter der Voraussetzung, dass das lyrische Ich sich selbst anspricht, entspricht das Gedicht dem Charakter von Nietzsche, der als Begründer des Nihilismus die moralischen Werte in vollem Bewusstsein auf der Suche nach Freiheit verloren hat, dies aber bereut, denn jetzt ist er gezwungen, neue Werte zu suchen, um in der Not darin Halt zu finden.
Dieses Referat wurde eingesandt vom User: Gürkchen
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