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Der gute Mensch von Sezuan - Referat
Das epische Theater von Bertolt Brecht
Inhaltsverzeichnis
Die Konzeption des epischen Theaters
Der Verfremdungseffekt (V-Effekt)
Das Zuschauerverhalten
Welche Rolle spielt der Verfremdungseffekt (V-Effekt)?
Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
Der offene Schluß des Stückes
Die Konzeption des epischen Theaters
Das von Berthold Brecht in den 20er Jahren erschaffene epische Theater ist die entgegengesetzte Form des aristotelischen Theaters.
Die Theorie des “epischen Theaters” hat Brecht im Anhang zu der Oper “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” dargelegt und der des dramatischen Theaters gegenübergestellt:
1) Dramatische Form des Theaters:
2) Epische Form des Theaters:
1) handelnd
2) erzählend
1) verwickelt den Zuschauer in die Bühnenaktion
2) macht den Zuschauer zum Betrachter, aber
1) verbraucht seine Aktivität
2) weckt seine Aktivität
1) ermöglicht ihm Gefühle
2) erzwingt von ihm Entscheidungen
1) Erlebnis
2) Weltbild
1) Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt
2) er wird gegenübergesetzt
1) Suggestion
2) Argument
1) Die Empfindungen werden konserviert
2) werden bis zur Erkenntnis getrieben
1) Der Zuschauer steht mittendrin,
2) Der Zuschauer steht gegenüber,
1) miterlebt
2) studiert
1) Der Mensch als bekannt vorausgesetzt
2) Der Mensch als Gegenstand der Untersuchung
1) Der unveränderliche Mensch
2) Der veränderliche und verändernde Mensch
1) Spannung auf den Ausgang
2) Spannung auf den Gang
1) Eine Szene für die andere
2) Jede Szene für sich
1) Wachstum
2) Montage
1) Geschehen linear
2) In Kurven
1) Evolutionäre Zwangsläufigkeit
2) Sprünge
1) Der Mensch als Fixum
2) Der Mensch als Prozeß
1) Das Denken bestimmt das Sein
2) Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken
1) Gefühl
2) Ratio
Beim epischen Theater werden die Szenen ohne dramatischen neben einander gereiht. Das ganze Stück besteht aus “Nummern”, d. h. aus selbständigen Elementen.
Der Zuschauer soll aus seiner passiven Haltung herausgelöst werden und zur kritischen Stellungnahme bewegt werden.
Die handelnden Personen und die dramatische Handlung werden Gegenstand der Untersuchung. Um dies zu erreichen, benutzt Brecht eine Reihe von Darstellungsmitteln, die er als “episch” bezeichnet. Vor allem, soll der Schauspieler seine dramatische Figur so darstellen, daß der Zuschauer an der Person auf der Bühne nicht nur die dramatische Figur, sondern den Darsteller dieser Figur erkennt. Der Schauspieler soll klarmachen, daß er nicht mit der dramatischen Figur identisch ist. Er soll sie gestisch zeigen, von ihr erzählen (episch = erzählerisch). Wichtig für die Darstellung ist nicht die mimische Nachahmung, sondern die gestische Deutung. Durch die gestische Sprache, kann sich der epische Schauspieler von der Figur trennen. Neben sprachlichen Gesten kann der Schauspieler auch andere Mittel wie Komik, Selbstbetrachtung oder Zuschaueransprache benutzen, um seine unabhängige Stellung deutlich zu machen. Er ist ein “Zeigender” und ein “Vorschlagender”. Er ist derjenige, durch den sich ein philosophischer Vorgang vollzieht, er ist ein Erkennender, durch den sich Erkenntnisse anbahnen. Der Schauspieler hat seine Figur darzustellen, aber so, daß sie sich der Kritik durch den Zuschauer aussetzt.
Die Handlung des epischen Theaters läuft nicht auf Spannung hin. Das dramatische Theater hingegen baut auf der Spannung auf und verlangt eine geschlossene Konstruktion der Handlung mit markiertem Anfang, Höhepunkt und Ende. Die berühmten drei Einheiten von Zeit, Raum und Handlung, die einsträngige und gradlinige Zielstrebigkeit der Handlung haben alle die Spannung zum Ziel.
Solche formalistische Strenge scheint Brecht nicht geeignet, die moderne Realität wiederzugeben. Er verlangt für sein “epische Theater” anstatt der Spannung die Unterbrechung. Danach soll die Handlung nicht zielstrebig zu Ende laufen, sondern in verschiedenen unabhängigen Szenen dargestellt werden. Diese dramatische Form nennt er seine “große Form”. Die Literaturkritik bezeichnet seine dramatische Form mit der des modernen Theaters als eine “offene Form” im Gegensatz zur “geschlossenen Form” des dramatischen Theaters. Songs und Balladen werden bei Brecht als Einlagen benutzt, um die Handlung zu unterbrechen und den Zuschauer von der dramatischen Illusion erneut herauszuholen. Auch Plakate, Projektionen, Transparente und andere theatralische Mittel werden benutzt, um solche Unterbrechungen herzustellen.
Der Schluß des Schauspiels, dessen Handlung dem klassischen Aufbau der aristotelischen Dramaturgie zuwiderläuft, ist im dialektischen Sinn offen, um dem Betrachter ein abschließendes Urteil selbst zu überlassen bzw. soll der Zuschauer die Antworten auf die aufgeworfenen Fragen selbst finden.
Der Verfremdungseffekt (V-Effekt)
Ein wichtiges Mittel des epischen Theaters ist die Verfremdung der dramatischen Handlung durch Kommentierung der Szenen zum Beispiel durch einen Erzähler, durch Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle, durch eingeschobene Lieder und Songs, durch Spruchbänder usw.
“Der Verfremdungseffekt besteht darin”, schreibt Brecht, “daß das Ding, das zum Verständnis gebracht, auf welches das Augenmerk gelenkt werden soll, aus einem gewöhnlichen, bekannten, unmittelbar vorliegenden Ding zu einem besonderen, auffälligen, unerwarteten Ding gemacht wird. Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann verständlicher zu machen.”
Historisierung ist ein sehr wichtiger V-Effekt im “epischen Theater”. Die dramatische Handlung wird als “gegenwärtig” und “wirklich vor Augen” des Publikums betrachtet. Der Zuschauer bekommt oft eine Illusion, als ob er ein wirkliches Ereignis erlebe. Brecht will aber die dramatische Handlung bewußt “historisieren” oder sie dem Publikum als eine Vergangenheit zeigen.
Der Vorgang der Verfremdung des Vertrauten führt zu einer Verwunderung am gewöhnlichen oder gewohnten Vorgang. Das scheinbar Bekannte wird so dargestellt, daß es der Zuschauer nicht sofort als bekannt erkennt. Anstatt dessen wird der Zuschauer sich wundern, warum er dasselbe früher nicht so betrachtet hat.
Das Zuschauerverhalten
Der Zuschauer soll sich nicht mit den Gestalten und dem Geschehen auf der Bühne identifizieren. Er soll Distanz zum Geschehen haben und dadurch zum Nachdenken über die gesellschaftliche Verhältnisse, ihrer Veränderbarkeit und die Notwendigkeit ihrer Veränderung angeregt werden. Man könnte Brechts episches Theater als eine Art philosophisch, aufklärerisches Lehrdrama bezeichnen.
Das Zuschauerverhalten, welches sich Brecht von dem Publikum des epischen Theaters erhofft, kann anhand der folgenden Tabelle gut nachvollzogen werden:
1) Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt:
2) Der Zuschauer des epischen Theaters sagt:
1) Ja, das habe ich auch schon Gefühlt.
2) Das hätte ich nicht gedacht.
1) So bin ich.
2) So darf man es nicht machen.
1) Das ist nur natürlich.
2) Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben.
1) Das wird immer so sein.
2) Das muß aufhören.
1) Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt.
2) Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.
1) Das ist große Kunst: Da ist alles selbstverständlich.
2) Das ist große Kunst: Da ist nichts selbstverständlich.
1) Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.
2) Ich lache über die Weinenden, ich weine über die Lachenden.
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aus Hauptmann/Slupianek, Brecht. Ein Lesebuch für unsere Zeit, S.385
Es soll nicht Furcht oder Mitleid geweckt werden, sondern lehrreich gezeigt werden, wie sich der Mensch verhält oder verhalten soll. Zu diesem Zweck laufen Brechts Stücke nicht wie im aristotelischen Theater üblich zu Höhepunkt, Katastrophe und Lösung zu, sondern werden immer wieder argumentierend z.B. durch Songs unterbrochen. Der Schauspieler muß aus dem Illusionsstil gelöst und der Zuschauer zum Nachdenken über das gezeigte angeregt werden. Der epische Schauspieler darf sich nicht vollends in seine Rolle vertiefen. Er ist nicht die Person, die gezeigt wird, er spielt sie nur.
Welche Rolle spielt der Verfremdungseffekt (V-Effekt)?
Wie die Grafik 2.1 und die Tabelle zeigen wird das Stück immer wieder von Zwischenspielen und Liedern unterbrochen. Alle Zwischenspiele sind als verfremdend zu beurteilen. Die laufende Handlung wird unterbrochen und der Zuschauer wird desillusioniert, er wird daran erinnert, daß es sich um ein Theaterstück handelt. Außerdem werden in ihnen darüber hinaus Denk- oder Reflexionsanstöße gegeben.
Die berühmten drei Einheiten von Zeit, Raum und Handlung werden (typisch für das epische Theater) somit in diesem Stück nicht eingehalten. Zwischen den einzelnen Szenen sind immer wieder Zeitsprünge zu erkennen.
In den fünf “Wang-Zwischenspielen” wird die Handlung aus der Sicht Wangs kommentiert. Außerdem werden hier Zwischenzeitbeschreibungen gegeben: “Im Dienste der Verfremdung beleuchten sie die zwischen den Handlungsszenen liegenden Zeiträume in der Form des epischen Berichts.”
In den beiden Shen-Te-Zwischenspielen kommentiert diese das Geschehen der Handlung aus ihrer Sicht.
Auch die Lieder sind als Verfremdungseffekt zu beurteilen, da hier ebenfalls das Geschehen auf der Bühne unterbrochen und kommentiert wird. Bei den Lieder handelt es sich inhaltlich um poetische Reflexionen von Einzelaspekten der Stückproblematik.
Die Handlung des Stückes wird somit ständig auf verschiedene Arten kommentiert und diskutiert. Dies geschieht durch Songs, direkte Kommentare der Schauspieler (Shen Te) an das Publikum und durch die Zwischenspiele, in denen die Götter und Wang über die abgelaufenen Ereignisse diskutieren. Man kann hier von einem Lehrtheater sprechen. Die Handlung des Stückes dient als Argument und als Beweis für die Intention des Stückes.
In der 8. Szene gibt es eine Art episches Theater im epischen Theater. Frau Yang, die Mutter von Sun, berichtet dem Publikum, wie sich ihr Sohn von einem “verkommenen Menschen in einen nützlichen verwandelt” hat. Diese erzählende Rückblende wird durch kleine eingeschobene Szenen illustriert, die sie wiederum kommentiert. Diese Demonstration verfremdet die Erzählung durch ihren Kontrast zum Gesagten. Die Folge ist, daß sie genau im umgekehrten Sinn überzeugend wirkt. Sun ist in der Fabrik auf Kosten anderer aufgestiegen und betätigt sich jetzt selber im Dienst der Ausbeutung.
Dieser Bericht von Frau Yang kann als eine zweite Perspektive gesehen werden. Sie komprimiert 3 Monate gelebte Zeit in eine Szene erzählter und gespielter Zeit:
Die vergangene Zwischenzeit zwischen den kurzen, eingeschobenen Szenen wird durch ihren Bericht überbrückt bis die erlebte Gegenwart des Stückes erreicht wird. Hierdurch wird eine zweite Sicht auf die Dinge oder eine zweite Erzähl-Perspektive geschaffen: eine direkte und eine durch Frau Yangs Ausführungen.
Diese Aufnahme einer zweiten Perspektive, die eine Mehrsträngigkeit der Zeit und des Raums zur Folge hat, ist ein typisches Gestaltungsmerkmal von Brecht.
Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
Das epische Theater macht den Menschen zum Gegenstand der Untersuchung. In diesem Stück ist die Hauptfigur Shen Te bzw. ihr dialektisches Gegenstück Shui Ta. Diese Spaltung der Person zeigen den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Ihm ist es nicht möglich, gut zu sein und trotzdem überleben zu können. Die Titelfigur steht wie der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Lebensideal und Lebenspraxis. Ihr Gutsein ist Natur und ihr Schlechtsein ist sozial bedingt durch die kapitalistische Klassengesellschaft.
Der Mensch ist nicht mehr wie im “dramatischen Theater” ein Fixum, ein verstehbares Wesen, sondern er wird als fremdes, zu enthüllendes Wesen und als Problem, als Gegenstand einer Analyse betrachtet. So sollen die Widersprüche (Shen Te <-> Shui Ta) in der kapitalistischen Gesellschaft im Verlaufe der Handlung nicht aufgehoben werden, sondern aufgezeigt und beleuchtet werden. Für die Lösung dieser Widersprüche ist nicht das Theaterstück zuständig, sondern die Zuschauer, die in einer solchen Gesellschaft leben.
“Folgerichtig demonstrieren die Helden des ‚Guten Menschen‘ nicht die Lösung des Problems. Ihre Demonstration gilt vielmehr dem Nachweis der Notwendigkeit einer Lösung.” Hans Gehrke; Brecht. Der Gute Mensch von Sezuan – Leben des Galilei. Hollfeld 1973
In diesem Theaterstück von Brecht ist also das Shen Te und ihre Gegenseite Shui Ta in erster Linie Gegenstand der Untersuchung. Ihre Nächstenliebe wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse erdrückt.
Die drei Göttern diskutieren zwischen den Szenen (im Zwischenspiel) das Verhalten von Shen Te. Sie “untersuchen” ihr Verhalten. Sie erhalten ihre Informationen über Shen Te von Wang, der sie oftmals versucht zu verteidigen. Der Zuschauer soll somit animiert bzw. angeregt werden auch über Shen Te, deren Situation und ihr Verhalten nachzudenken bzw. die “Untersuchung” der Götter fortzuführen. Der Zuschauer soll zu eigenen Erkenntnissen über das Verhalten von Shen Te gelangen und diese auf sein eigenes Leben und auf die Gesellschaft zu übertragen.
Natürlich soll der Zuschauer auch das Verhalten der anderen Figuren untersuchen zum Beispiel das von Sun (Ausbeutung von Shen Te und der Arbeiter in der Fabrik) oder des Babiers Shu Fu (der Wangs Hand verletzt), doch Hauptgegenstand der Analyse des Zuschauers soll Das Verhalten von Shen Te und deren “zweites Gesicht” Shui Ta sein.
Der offene Schluß des Stückes
Viele Stücke von Brecht bringen das Problem, aber nicht die Lösung. In dem Stück “Der Gute Mensch von Sezuan” bricht Brecht an der Stelle der Zuspitzung des Problems ab, die Hauptfigur tritt nach vorne und fragt das Publikum nach der Lösung.
Die Brechtschen Stücke dienen also einer Bewußtseinsentwicklung. Sie geben Anstoß zur einer Denkrichtung.
Kurt Bräutigam schreibt über die letzte Szene folgendes in seinem Buch über Bertolt Brechts “Der gute Mensch von Sezuan”:
“Die Gerichtsszene ist ein Spiel im Spiel. Sie dient damit, wie jede Desillusion der Verfremdung des Stoffes, sie rüttelt durch ihr zeigen den Zuhörer auf, mitzusuchen nach der Lösung. Das Spiel im Spiel führt dem Zuschauer im Theater seine wahre Rolle und Aufgabe vor Augen, indem es das Verhältnis Publikum – Schauspieler im Verhältnis Zuschauer im Gerichtssaal – Gerichtsparteien wiederholt. Auch hier dient der ,Gestus des Zeigens‘ der Aktivierung des Zuschauers.”
Der Epilog und somit das Stück endet mit einer Art Befehl an das Publikum:
“Verehrtes Publikum, los, such die selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!”
Dies zeigt sehr deutlich, was Brecht mit diesem Stück erreichen wollte (vergleiche 1.3 Das Zuschauerverhalten): Brecht möchte den Zuschauer nicht vorgefertigte Lösungen bieten, er möchte ihn zum aktiven Denken anregen.
Der Epilog mit seiner dringlichen Aufforderung an das Publikum, es solle doch die Lösung selbst finden, wirft einerseits Fragen auf, gibt aber andererseits eine eindeutige, vorbereitete Lösung vor:
Die Gesellschaftsordnung bedarf einer Revolution!
Quelle(n) für dieses Referat: Marianne Kesting, “Das epische Theater”, S.55ff
Volker Klotz, “Bertolt Brecht Versuch über das Werk”
Klaus Völker, “Brecht-Kommentar 3 zum dramatischen Werk”, S.205ff
Peter Paintner, “Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan”
Henning Rischbieter, “Brecht II”, S.34ff
Walter Benjamin, “Versuche über Brecht”, S. 22ff
Bruno Schärer, “Bertolt Brechts
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