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Interpretation des Gedichts Geometrischer Ort von Günther Eich - Referat
1939 bis 1945 – der zweite Weltkrieg, ein Ereignis voll Leid und Tod, an das man sich nicht gern
zurückerinnert. Doch im Vergleich zu Japan ist der Krieg in Deutschland noch gut ausgegangen. Denn
hätte Deutschland nicht am 8. Mai 1945, eher als von den USA erwartet, die Kapitulation
unterschrieben, hätten die beiden Atombomben, wie geplant, Deutschland getroffen. Doch so
wurden sie auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki geworfen, um den dort
herrschenden Faschismus zu besiegen. Sie kosteten hunderttausende von Menschen das Leben und
lösten fatale Langzeitfolgen aus.
Jeder Mensch sollte sich einmal mit dem zweiten Weltkrieg beschäftigt haben und über diesen
Bescheid wissen. Günther Eich (1907 – 1972) hat diese Thematik in einem Gedicht aufgegriffen, was
für seine Zeit alles andere als gewöhnlich ist. Anlass für das 1963 veröffentlichte Gedicht
„Geometrischer Ort“ war der Besuch der Gedenkstätte in Hiroshima. Mit der Intention, seine
Erlebnisse und Eindrücke zu verarbeiten, schrieb der bekannte Autor der deutschen
Nachkriegsliteratur ein Gedicht der Erlebnis- und Gedankenlyrik, welches die Situation nach dem
zweiten Weltkrieg in Deutschland und Hiroshima vergleicht.
Das Gedicht besteht aus sechs Strophen und besitzt 36 Verse. Ein lyrisches Ich, in der ersten Strophe
ist es ein lyrisches Wir, reflektiert seine Erlebnisse und führt seine Gedankengänge zu den Ereignissen
in Hiroshima aus. Dabei verwendet es einfache Alltagssprache, die jedoch sehr bildhaft ist und
teilweise schon fast poetisch wirkt. Hierbei ist es ehrlich, direkt und nicht umschweifend.
Grundsätzlich gibt es in „Geometrischer Ort“ zwei bedeutende Figuren. Das lyrische Ich verkörpert
einen deutschen Bürger in der Nachkriegszeit, der von den Geschehnissen während des
Nationalsozialismus entweder nicht viel wusste oder aber sich eher dagegen aufgelehnt hat, anstatt
mitzumachen. Im Gedicht wird mehrmals auf seine Unschuld hingewiesen (vgl. V. 3, 10, 27).
Der „Schatten“ (V. 1) steht metaphorisch für die, ebenfalls unschuldigen, Bürger von Hiroshima, die
durch den Abwurf einer Atombombe ums Leben gekommen sind. Dies hat auch einen Hintergrund,
denn alle Menschen, die sich zu nah am Zentrum der Explosion befanden, sind durch die auf einmal
freigesetzte extreme Hitze sofort verdampft. Nur ihre Schatten brannten sich in nahe Gemäuer ein.
Der „Schatten“ steht also nicht nur für (tote) Menschen, sondern auch generell für das damit in
Verbindung stehende Leid und den Schrecken.
Auch der Titel „Geometrischer Ort“ zielt auf die Schatten der Opfer der Atombombe ab. Denn aus
dreidimensionalen Menschen wurden zweidimensionale Schatten und somit kann man die Stadt
Hiroshima, in der sich viele dieser Schatten finden lassen, als einen geometrischen Ort sehen.
Diese beiden Figuren und deren Verbindung zueinander ziehen sich durch das gesamte Gedicht und
stellen die Hauptthematik dessen dar.
In der ersten Strophe, die aus vier Versen besteht, wird von einem Schatten erzählt, welcher „an
einer Mauer in Hiroshima“ (V. 2) hängt. Das lyrische Ich hat das Gefühl, Hiroshima verraten zu haben,
indem es den Schatten weiter gegeben hat. Der Autor will an dieser Stelle darauf aufmerksam
machen, dass die Atombombe eigentlich für Deutschland gedacht war und nur durch dessen
frühzeitige Kapitulation, mit der die USA nicht gerechnet hatte, für Hiroshima verwendet wurde.
Deutschland hätte es also genauso wie Hiroshima ergehen können.
In den beiden nachfolgenden Versen macht er allegorisch am Beispiel der Zinsen deutlich, dass
Deutschland nichts für diese Tatsache kann, da es nichts von der Entwicklung der Atombombe in den
USA wissen konnte (vgl. V. 3). Trotzdem hatte es einen Vorteil davon, und das meint Eich mit den
Zinsen, schließlich wurde das Land von der Atombombe verschont, wenn auch unwissentlich. Somit
war das lyrische Wir darauf bezogen unschuldig, hatte aber trotzdem ein schlechtes Gewissen bzw.
konnte gar nicht richtig verstehen, was eigentlich passiert war – es war „ratlos“ (V. 4).
In Strophe zwei geht es um früher. Die Worte „Kneipe“ (V. 6), „liebe Freunde“ (V. 5), „mein Whisky“
(V. 5) und „mit dem Namenszug“ (V. 7) deuten allegorisch auf die guten alten Zeiten hin, in denen
das lyrische Ich noch ein reines Gewissen hatte (vgl. V. 8). Vielleicht war es früher immer in einer
Stammkneipe, wo es sogar schon eine Flasche mit seinem Namen drauf hatte (vgl. V. 6f). Doch jetzt
ist alles anders, das Leben ist nicht mehr einfach und unbeschwert und es kann nicht wieder zurück,
denn es weiß, es wird - metaphorisch - „die Kneipe nicht mehr finden“ (V. 6).
Die dritte Strophe besteht, wie die zweite auch, aus fünf Versen. Sie ist wieder sehr bildhaft und
verschlüsselt geschrieben. Mit „Ich habe den Pfennig nicht auf die Bank gelegt“ (V. 10) will das
lyrische Ich metaphorisch seine Unschuld verdeutlichen. Denn es hat sich nichts zu Schulden
kommen lassen, also keine Schuld (Pfennig) auf die Bank eingezahlt. Hierbei steht die Bank für die
Gesamtsumme an Schuld und der Pfennig für eine sehr geringe Menge an Schuld und nicht einmal
die hat das lyrische Ich sich zukommen lassen. Gleichzeitig soll wohlmöglich mit dem sorgsam
gewählten Vergleich des Pfennings und der Bank Kritik am Kapitalismus ausgeübt werden.
In Vers 12 spricht das lyrische Ich abwertend von der Metapher der „Urenkel auf Menschen
dressierter Hunde“ (V. 12), welche für die Nationalsozialisten standen, die nicht mehr menschlich,
sondern vielmehr tierisch, animalisch gehandelt haben. Die Donauschule (V. 13) könnte ein
Konzentrationslager meinen, von denen es mehrere an der Donau gab (KZ Melk, KZ Mauthausen,…).
Und die „Hügel“ (V. 13) stehen dann für die Berge an Leichen in den KZs. Andererseits könnte auch
ein Bezug zu einem Ort oder Erlebnis aus dem Leben des Autors bestehen, sodass sich deren
Bedeutung dem Leser nicht erschließen kann.
Die vierte Strophe bezieht sich wieder auf den Vergleich zu Hiroshima. Das lyrische Ich fühlt sich
überwältigt von so vielen schrecklichen Bildern, es hält dieses Leid nicht mehr aus. Mit der
„verbrannte[n] Haut“ (V. 16) wird wieder die Verbindung zu den Folgen der Atombombe und dem
Leid der verbliebenen Bürger von Hiroshima gezogen. Statt immerzu nur noch schlimme Dinge zu
sehen, will das verzweifelte lyrische Ich wieder fröhlich und glücklich sein, was mit der Wiederholung
des, bereits in Strophe zwei aufgetretenen, Whiskys deutlich wird. Kurzum, es wünscht sich die alten
Zeiten wieder herbei, in denen noch alles gut war.
Zudem ist das lyrische Ich mittlerweile aber auch verbittert und wütend auf die Menschen, was sich
in Vers 19 und 20 zeigt, denn es sympathisiert mit den Hunden, deren Vorfahren „Menschen
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ansprangen“ (V. 20), frei mach dem Motto meines Feindes Feinde sind meine Freunde. Das lyrische
Ich will also wieder zurück zu der guten alten Zeit, dies ist aber durch den Krieg unmöglich geworden.
Deshalb übt es Kritik an den Menschen aus und fragt sich warum Menschen überhaupt Kriege
führen.
Die fünfte Strophe beschreibt die Verbundenheit, die das lyrische Ich mit dem „Schatten“ (V. 22), also
den gestorben Menschen in Hiroshima, fühlt, sowie sein Gefühl, für ihn bzw. sie verantwortlich zu
sein. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Strophen, in denen immer nur von einem
unbestimmten Schatten die Rede war (vgl. V. 1), wird dieser in Vers 23f zu „mein Schatten | am
Bankhaus in Hiroshima“ konkretisiert. Dieser Schatten entstand vermutlich aus einem wahren
Vorbild – am Bankhaus in Hiroshima kann man einen der Schatten von 1945 sehen, er entstand bei
der Explosion der Atombombe aus einem Mann, der sich zu diesem Augenblick auf der Treppe der
Bank befand.
Das lyrische Ich spricht in dieser Strophe den Schatten direkt an, wie einen Freund. Mit seinem
Versprechen, den Schatten zu besuchen, verspricht es ebenfalls im übertragenen Sinne ihm zu
gedenken und ihn nicht zu vergessen. Es will mit ihm feiern und auf ihn anstoßen (vgl. V. 26).
Es wird auch wieder auf das Bankhaus verwiesen, indem von dem „Konto“ (V. 27) die Rede ist.
Mit dieser Allegorie soll erneut auf die Unschuld beider, der des lyrischen Ichs und der des Schattens,
aufmerksam gemacht werden, also im übertragenen Sinne des lyrischen Ichs und der Opfer der
Atombombe. Denn auf dem Konto beider befindet sich noch immer keine Schuld, da sich beide nichts
zu Schulden kommen lassen haben.
Zwischen der fünften und der sechsten Strophe gibt es einen Zeitsprung. Das lyrische Ich beschreibt
nun, wie die Zukunft für den Schatten und sich selbst wahrscheinlich ablaufen wird. Allegorisch wird
durch ein Museum, das geschlossen und abgerissen wird (vgl. V. 28), dargestellt, dass all das Unglück,
Leid und die Opfer der Atombombe, verkörpert durch den Schatten, vergessen werden sollen. Denn
das Museum steht für das Gedenken der Toten, weil ein Museum schließlich immer Erinnerungen
bewahrt, damit diese nicht verloren gehen und auch den nachfolgenden Generationen noch erhalten
bleiben können. Und mit dem Abriss des Museums gehen auch die wertvollen Erinnerungen
verloren. Oder aber man versucht ein bestimmtes negatives Ereignis bewusst zu verdrängen.
Der „Hilferuf“ (V. 32) bedeutet die letzte Möglichkeit für das lyrische Ich, durch einen Appell an die
Menschen den Schatten vor dem Vergessen zu bewahren.
Das lyrische Ich aber will den Schatten und die Opfer der Atombombe nicht vergessen, mit dem Vers
„deine in meine Schuh“ (V. 34) zeigt es seine Verbundenheit. Durch die Gemeinsamkeit des in
Vergessenheit Geratens kann sich das lyrische Ich perfekt mit dem Schatten identifizieren (vgl. V.
33ff). Dies wird noch verstärkt durch die Anapher „hinter dein“ (V. 31f).
Mit dem Gedicht „Geometrischer Ort“ versucht Günther Eich seine eigenen Erlebnisse aus der
Nachkriegszeit und seine Impressionen aus seinem Besuch in Hiroshima zu verarbeiten. In der
Nachkriegszeit war es in Deutschland weitverbreitet, die Geschehnisse, vor allem die schlimmsten,
einfach zu vergessen, weil man sich ihrer zu sehr geschämt hat. Eich kritisiert diese Denkweise in
seinem Gedicht, vor allem in der letzten Strophe, mit Hilfe der Metapher des Museums, das
eingeebnet wird (vgl. V.28) und dem „Hilferuf“ (V. 32). Er appelliert mit diesen Versen an die
Menschen, ihrer Geschichte, egal wie grausam und erschreckend sie auch sein mag, zu gedenken und
aus ihren Fehlern zu lernen, damit sie diese nie wieder machen.
In der letzten Strophe verdeutlicht sich insbesondere die enge Verbundenheit, die Eich zwischen
seiner Geschichte bzw. der seines Landes und der Hiroshimas empfindet. Denn er zieht den Vergleich
der Sekunde hinzu, die deutlich macht, dass die Gemeinsamkeiten sehr groß sind. Denn eine Sekunde
stellt eine sehr kleine Einheit dar und somit müssen der Schatten und das lyrische Ich auf die
Sekunde genau, also perfekt, zusammen passen.
Durch die Metrum- und Reimlosigkeit des Gedichts sowie die häufig auftretenden Enjambements (V.
7, V. 10, V. 12f, V. 19,…) wirkt es teilweise eher wie eine Geschichte und weniger wie Lyrik. Es drückt
damit gleichzeitig auch die Verwirrtheit sowie Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs aus, die man
wohl auch auf den Autor übertragen kann.
Das lyrische Ich ist durch das ganze Gedicht hindurch innerlich zerrissen zwischen Unschuld und
schlechtem Gewissen, von dem es trotz allem geprägt wird. Ich denke man kann den lyrischen
Sprecher in diesem Fall mit dem Autor gleichsetzen, der durch seine Erlebnisse im ersten und
zweiten Weltkrieg und seinen Impressionen von seinem Besuch in Hiroshima gezeichnet ist. Seine
ganze Verbitterung und Wut über die Tatsache, dass Menschen Kriege führen, schon immer geführt
haben und immer führen werden, genau wie seine Frage, warum sie das tun, lässt er in dieses
Gedicht einfließen. Vor allem die dritte und vierte Strophe wirken wütend und verbittert auf den
Leser, die erste Strophe zeigt seine Verwirrtheit und Ratlosigkeit und die zweite und fünfte Strophe
wirken traurig sowie melancholisch während die letzte Strophe tiefe Verbundenheit vermittelt.
Günther Eichs Intention ist es, mit Hilfe dieses Gedichts zum einen seine eigenen Erlebnisse und
Eindrücke zu verarbeiten, zum anderen aber auch an den Leser zu appellieren in Hinsicht auf das
Gedenken der Geschichte eines jeden Landes. Zudem ruft er gegen das Führen von Krieg auf, da
diese immer Leid und Schrecken verursachen, egal wer gewinnt und wer verliert. Ein weiteres Ziel,
dass sich Eich mit „Geometrischer Ort“ zu erfüllen sucht, ist die Beseitigung des ihn plagenden
schlechten Gewissens, da die Atombombe eigentlich für Deutschland bestimmt war und nur durch
einen zufälligen Umstand schließlich doch auf Japan geworfen wurde. Obwohl Eich absolut nichts
dafür kann, fühlt er sich schuldig am Tot der Menschen in Hiroshima.
Um nochmal auf den Anfang meiner Interpretation zurück zu kommen, Günther Eich hat also einen
Schritt gewagt wie kaum ein anderer seiner Zeit, indem er das Vorgehen vieler Menschen seines
Landes kritisiert und der Zeit des Faschismus in Deutschland und Japan ein Mahndenkmal gesetzt
hat.
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