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Johann Wolfgang Goethe - Referat
Vor mehr als 250 Jahren, am 28. August 1749 wurde Johann Wolfgang Goethe als Sohn des Bürgers und Kaiserlichen Rates Dr. jur. Johann Caspar Goethe und seiner Frau, Katharina Elisabeth, in Frankfurt am Main geboren. Anlässlich seines 250. Geburtstags wurde in der deutschen Presse viel über den großen Dichter diskutiert. Viel wurde darüber berichtet, wie Goethe war: Dichter, Denker, Staatsmann, Bürokrat, Frauenheld, usw. Wenig jedoch über den historischen Kontext in dem Goethe lebte und wirkte. Doch gerade dieser ist entscheidend, um die Frage zu beantworten, warum Goethe so geworden ist, wie er war ist. # Goethes Zeit Im 18. Jahrhundert herrschten in Deutschland noch mittelalterliche Verhältnisse. Die Mehrheit der Menschen gehörten zur leibeigenen Bauernschaft und hungerten unter dem Joch ihrer Fürsten, von denen sie maßlos ausgepresst wurden. Die Kirche, selbst einer der mächtigsten Großgrundbesitzer, rechtfertigte diese Verhältnisse.
Ein Deutschland als Nationalstaat existierte nicht. Vielmehr war das Land zersplittert in unzählige Kleinstaaten, allesamt voneinander unabhängig. Diese Strukturen waren es, die jeder wirtschaftlichen Entwicklung entgegenwirkten und die Entstehung eines mächtigen Bürgertums, wie in Frankreich und England, verhinderten. Während in England das Bürgertum den König bereits in seine Schranken gewiesen hatte und das Französische bald nachziehen würde, war das deutsche Bürgertum zu schwach und passte sich lieber dem Adel an. Der deutsche Revolutionär Friedrich Engels schrieb ein halbes Jahrhundert später über diese Zeit: „...sie wußten, daß sie im trüben am besten fischen konnten; sie ließen sich unterdrücken und beleidigen, weil sie an ihren Feinden eine Rache nehmen konnten, die ihr würdig war; ... indem sie ihre Unterdrücker betrogen“ und weiter: „Es wußte, daß Deutschland nichts war als ein Dunghaufen, es hatte sich aber in diesem Dunghaufen gemütlich eingerichtet, weil es selber Dung war und es saß warm in dem Dung.“1 Volk der Dichter und Denker Währenddessen besaß jedes auch noch so kleine Fürstentum eine Vielzahl kultureller Institutionen. Das Wetteifern der Fürsten um die besten Musiker, Maler, Dichter und Philosophen führte zu einer rasanten kulturellen Entwicklung und ging so weit, dass allein Sachsen mehr Universitäten besaß, als ganz England. Goethe sagte dazu: „Während aber die Deutschen sich mit der Auflösung philosophischer Probleme quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt“2 Auf diese Weise entstand in Deutschland eine neue Schicht bürgerlicher Intellektueller, welche die Rückständigkeit und Beschränktheit ihrer feudalen Gesellschaft erkannten und verabscheuten. Goethe schrieb über die damaligen Herrscher: „Wie selten kommt ein König zu Verstand!“3 und auch für die Kirche hatte er wenig übrig: „Die Kirche hat einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch noch nie sich übergessen.“4
Diese Zeit der Rebellion ist als Sturm und Drang in die Literaturgeschichte eingegangen. Doch ihre Arena war nicht die Straße, sondern die Literatur. Regiert hat der Adel, die Intelligenz war von politischer und sozialer Kontrolle ausgeschlossen. Nur als Künstler und Gelehrte waren sie ihren Fürsten nahe. Und wie Goethe im Wilhelm Meister erklärt, konnten die Bürger zwar Verdienste erwerben und sich Bildung aneignen, aber ihre Persönlichkeit ging verloren, da ausschließlich der Adel die Öffentlichkeit beherrscht. Es war also die Schwäche des deutschen Bürgertums, das nicht im Stande war, gegen den alten feudalen Adel zu rebellieren, die das Auflehnen der Stürmer und Dränger in die Welt der Literatur verdrängte. Engels schrieb: „Jedes bemerkenswerte Werk dieser Zeit atmet einen Geist des Trotzes und der Rebellion gegen die deutsche Gesellschaft, wie die damals bestand.“1 # Goethes Jugend Zwei Werke aus Goethes Sturm und Drang Zeit will ich hier etwas genauer beleuchten: Prometheus (siehe Kasten) und den Götz von Berlichingen. Goethes Gedicht Prometheus, welches 1773 im Kontext von Goethes Arbeit an einem gleichnamigen Drama (es blieb allerdings ein Fragment) entstand, atmet genau diesen Geist des Trotzes von dem Engels so angetan schrieb. Die Gegenüberstellung von Himmel und Erde, von 'oben' und 'unten' ist nicht nur bildhafte Vorführung der vorherrschenden Trennung von Vernunft und Glaube, Moral und Religion, Staat und Kirche, Individuum und Gesellschaft, sondern zugleich eine Infragestellung sozialer Hierarchien. Dies wird durch das Bild von Prometheus' Hütte noch bestärkt, die im Gegensatz zu den Palästen der Herrschenden als antifeudale Metapher zu sehen ist. In der provokativen Rethorik klingt sogar die Auffassung an, dass Gott und damit Autorität nur ein Produkt der menschlichen Phantasie sei. Das ist nicht nur ein Frontalangriff auf die zu Goethes Zeit mehr als mächtige Kirche, sondern ein Kampfruf gegen die herrschenden gesellschaftlichen Zustände, gegen die Autorität der Fürsten. Prometheus' Selbstbehauptung ist gekoppelt an seine Arbeit. Sein Ausspruch „forme Menschen / Nach meinem Bilde...“ drückt nicht nur den Anspruch der Stürmer und Dränger aus, die alte Generation abzulösen, sondern ihren Wunsch, eine neue Gesellschaft zu schaffen, frei von absolutistischen Herrschern, in der „leiden, weinen, / Genießen und [sich] freuen“ wieder einen Platz finden. Doch Goethe lässt seinen Prometheus weiter gehen, als er und seine Zeitgenossen es wagen. Durch seine Arbeit bleibt Prometheus nicht nur Revolutionär des Wortes; er wird auch Revolutionär der Tat. Diesen Gedanken greift er im ersten Teil seines Faustdramas wieder auf. Faust sinniert: „Geschrieben steht: 'Im Anfang war das Wort!' / Hier stock ich schon! Wer hilft mir fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“5 Nicht nur das Wort oder die Idee zählt, sondern das, was die Menschen tun! Wieder stößt Goethe ein jahrhundertelang geltendes kirchliches Dogma um. Damals war es gar nicht so lange her, dass Menschen verbrannt wurden, die auch nur die unwichtigsten Details der Gottesdienstpraxis in Frage gestellt hatten. Die Bibel sagt: Am Anfang war Gottes Wort. Goethe behauptet einfach das Gegenteil – am Anfang war die Tat, ein Vorgang, dem andere Vorgänge gefolgt sind, so dass schließlich unsere heutige Welt nach und nach entstanden ist. Dieser Gedanke war damals fundamental neu. Vor allem auch die spätere Distanzierung des klassischen Goethes von seinem Jugendwerk Prometheus und sein Schreiben an Zelter unterstreichen seine politische Bedeutung. Goethe schrieb am 11. Mai 1820 an Zelter: „Lasst ja das Manuskript nicht zu offenbar werden, damit es nicht im Druck erscheine. Es käme unserer revolutionären Jugend als Evangelium recht willkommen, und die hohen Commissionen zu Berlin und Mainz möchten zu meinen Jünglingsgrillen ein sträflich Gesicht machen.“6 Goethes zweites Werk, auf welches in diesem Zusammenhang wert ist einzugehen, ist sein Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, welches er bereits 1771 in einer ersten 'rohen' Fassung niederschrieb. Obwohl Goethe in der zweiten Fassung einiges seiner sozialkritischen Rethorik fallen hat lassen, werde ich mich hauptsächlich auf diese Fassung beziehen. Götz von Berlichingen ist ein freier Reichsritter, „nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst“. Götz, „den die Fürsten hassen und zu dem die Bedrängten sich wenden“7, wird in seinem Kampf um die alten Tugenden und die alte „Freiheit“ gegen die „Nichtswürdigen“ und „die Zeiten des Betrugs“ unfreiwillig zum Rebell gegen die bestehende Ordnung.
Als Goethe anfing sich mit dem historischen Stoff über Gottfried von Berlichingen (1480-1562) auseinander zusetzen, war es nicht Götzens Welt, die ihn bewegte, sondern die eigene, deren Spiegelbild er zu erblicken glaubte. Der Bischof von Bamberg, Götzens Gegenspieler repräsentiert die Korruptheit und Macht des Klerus und des Adels. Er benutzt Götzens Jugendfreund Weislingen als Werkzeug, um seine Tyrannei zu sichern. Er kennt keine Skrupel. Lüge und Verrat, das ist seine Welt. In ihm sieht Goethe auch die meisten Herrscher seiner Zeit. Demgegenüber stellt Goethe sein titanisches Freiheitsideal: „Glücklich und groß“ kann nur der sein, „der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht um etwas zu sein!“8 Und der Mönch Martin klagt über die Unmenschlichkeit der religiösen Gelübde und Ordensregeln: Martin. Für mich einen Trunk Wasser. Ich darf keinen Wein trinken. Götz. Ist das euer Gelübde? [...] Martin. Was ist nicht beschwerlich auf dieser Welt! und mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein dürfen. Armut, Keuschheit und Gehorsam – drei Gelübde, deren jedes, einzeln betrachtet, der Natur das Unausstehlichste scheint, so unerträglich sind sie alle. Und sein ganzes Leben unter dieser Last, oder der weit drückenderen Bürde des Gewissens mutlos zu keuchen! O Herr! was sind die Mühseligkeiten Eures Lebens, gegen die Jämmerlichkeiten eines Standes, der die besten Triebe, durch die wir werden, wachsen und gedeihen, aus mißverständlicher Begierde Gott näher zu rücken, verdammt?9 Müßiggängigkeit ist für Götz Zeitverschwendung, er sehnt nach Taten: Der Müßiggang will mir gar nicht schmecken, und meine Beschränkung wird mir von Tag zu Tag enger; [...] ...Schreiben ist geschäftiger Müßiggang... Indem ich schreibe, was ich getan, ärger ich mich über den Verlust der Zeit, in der ich etwas tun könnte.10 Dies verdeutlicht nochmals das Verhältnis der Stürmer und Dränger zu aktiver politischer Veränderung. Götz handelt – Goethe nicht, er lässt Götz handeln. Deshalb stellt sich Götz als Führer eines Bauernaufstand auf die Seite der Armen und offen gegen die Herrschenden. Zwar sind von Götzens und auch Goethes idyllischen und damit falschen Freiheitsideals her die aufständischen Bauern pöbelhaft ziellose Rebellen, ja sogar Missetäter und Mörder, die gezügelt werden müssen, doch immer noch angenehmer als die Fürsten. Und trotz der offensichtlichen Distanzierung vom Bauernaufstand finden sich in der ersten Fassung des Götz noch leichte Sympathiesignale11 für diesen. Doch dieses falsche Freiheitsideal wird im laufe des Stücks immer weiter verinnerlicht und schließlich völlig ins Jenseits verdrängt: „Freiheit! Freiheit! / Nur droben, droben bei dir. Die Welt ist ein Gefängnis.“12 Dies fußt nicht zuletzt auf Goethes Enttäuschung über die politische und soziale Entwicklung im Deutschland der 1770er, die sehr stark in Götzens letzten Worten anklingt: „Schließt eure Herzen sorgfältiger als eure Tore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.“13 Die Vorstellung über den Verfall der Gesellschaft Götzens deckt sich mit Goethes: Nicht die Zersplitterung in viele kleine Territorialstaaten an sich ist verhängnisvoll, sondern der schlechte Charakter der Fürsten und ihr Hang zum Eigennutz. Doch unter vielen Schlechten sind auch wenige Vernünftige – sie sind für Goethe die Zukunft. Götz klagt: „Hab ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt [...] Sollten wir nicht hoffen, daß mehrere solcher Fürsten auf einmal herrschen können?“14 Es war diese Mischung aus falschem idyllischen Freiheitsideal, die Enttäuschung über die ausbleibende 'reale' Rebellion gegen die gesellschaftlichen Missstände, sowie seine scheinbare Perspektive, die Welt zusammen mit aufgeklärten Regenten zu verbessern, die ihn später dazu veranlassten, am Weimarer Hof zu bleiben. # Der Weimarer Goethe Seit ihrer ersten Bekanntschaft waren sich Carl August, Herzog von Weimar, und Goethe in ihren Ansichten über zeitgemäße Staatsführung einig. Goethes Besuch, auf Einladung Carl Augusts hin, in Weimar war zunächst zeitlich begrenzt gedacht. Doch schon im Januar 1776 schrieb Goethe an Merck: „...in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können.“15 Goethe wurde zum Geheimen Legionsrat ernannt, bekam einen Sitz im obersten Gremium, dem Geheimen Conseil und bezog mit 1200 Talern das zweithöchste Gehalt im Lande. 1779 wurde er Geheimrat und 1782 schließlich geadelt. Doch die politische Beteiligung am Weimarer Hof hatte einen hohen Preis. Zwar hatte er gelernt seine Tätigkeit als politische Ordnungskraft zu schätzen, doch gleichzeitig ließ ihn die Erkenntnis resignieren, welch enge Grenzen hierdurch seinem Wirken gesetzt wurden. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit für seine Wissenschaften und Künste. Hartmut Reinhard schreibt: „Für einen glorifizierenden Enthusiasmus im Zeichen des Freiheitsgefühls bleibt dem Weimarer Goethe keine Stimme mehr.“16 Goethe seufzt: „Wieviel wohler wäre mir's wenn ich von dem Streit der politischen Elemente abgesondert, den Wissenschaften und Künsten wozu ich geboren bin, meinen Geist zuwenden könnte“17 Es kommt so weit, dass Goethe am 3. September 1786 heimlich zu einer Reise nach Italien aufbricht.
Nur indem er sich dem politischen Leben am Hof entzieht kann er wieder zur Kunst und zur Wissenschaft zurückkehren. In Italien schreibt er zwei seiner klassischen Versdramen, die beide so anders sind zu seinen früheren Werken: Iphigenie auf Tauris (1787) und Torquanto Tasso (1790). Beide Werke sind Dichtungen der Disziplin und der Ordnung, in ihnen ist das Wesen des Goethischen Humanismus am Klarsten zu erkennen: die wilden und aggressiven Kräfte im Menschen treiben ihn immer mehr in die Richtung dieser Kräfte. Damit ist Torquanto Tasso auch ein selbsbiographisches Werk. In ihm rechnet Goethe mit seiner titanischen Jugend ab. Doch Goethe geht nicht zugrunde, wie Tasso, wird nicht Selbstmörder wie Werther. Er entsagt seinem titanischen Teil und wird ein erwachsener und höfischer Mensch. # Französische Revolution Die Französische Revolution von 1789 schlug ein wie ein Donnerschlag in die rückständige Welt und hatte eine gewaltige Wirkung auf die Intellektuellen ihrer Zeit. Auch Goethe wurde durch sie aus seinem dichterischen Paradies gerissen. Das Bürgertum in Frankreich hatte die Privilegien des Adels für abgeschafft erklärt, worauf das Volk von Paris die Bastille stürmte, das Staatsgefängnis und verhasste Machtsymbol des Absolutismus. Die Monarchie wankte unter den wuchtigen Hieben des Aufstands. Goethe schrieb über seine Zeit: "Throne bersten, Reiche zittern."18 Die Schlagworte der Zeit waren "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Und Goethe rief seinen intellektuellen Zeitgenossen zu: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen."19 Der damals herrschenden Geschichtsauffassung nach, hatte alles seinen festen Platz in der Welt. Oben stand der König, unten seine Untertanen. So war die Welt von Gott entworfen, und so sollte es immer bleiben. Geschichte war statisch, nicht dynamisch. Die französische Revolution aber stellte genau dies in Frage. Goethe kam zu dem Schluss, dass nichts auf der Welt ewig sein konnte: "Alles muß ins Nichts zerfallen,/wenn es im Sein beharren will."20 Könige, über hunderte von Jahren von Gott eingesetzte unumschränkte Herrscher über alles in der Welt, sollten ihre Plätze räumen. dass es so etwas wie Geschichte gibt, dass jede Gesellschaftsform ihren Anfang aber auch ihr Ende hat, auch dieser Gedanke war damals fundamental neu. Doch die Entwicklung in Frankreich blieb nicht stehen. Die Masse der Stadtbevölkerung lebte in drückender Armut, die Konterrevolution des Adels bedrohte den Bestand der jungen Republik von innen und von außen. Das Bürgertum, dass beim erreichten stehen bleiben wollte, schloss Kompromisse mit dem Adel. Die Revolution radikalisierte sich, das verarmte Kleinbürgertum und die Handwerker in den Städten schoben das Großbürgertum beiseite. Die breite Masse des Volkes griff ständig in das Schicksal der Revolution ein. Der Volksaufstand brachte die Jakobiner an die Macht. Sie unterdrückten rücksichtslos den Adel und führten soziale Reformen ein. Die deutschen Intellektuellen reagierten mit Abscheu. Sie befürworteten die Ideale der Revolution -- "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" -- aber nicht die praktischen Konsequenzen. Goethe kommentiert frustriert: "Vor der Revolution war alles Bestreben, nachher verwandelte sich alles in Forderungen." Und sein Mephisto fügt an sein berühmtes Wort "Alles, was entsteht, / ist wert, daß es zugrunde geht" an: "dumm besser wär's, daß nichts entstünde..."21
Er empfiehlt dem Volk von Paris sogar: "Es ist besser, daß Ungerechtigkeiten geschehen, als daß sie auf eine ungerechte Weise gehoben werden."22 Der Schrecken der Guillotine machte die deutschen Freunde der Revolution zu erbitterten Gegner. Der Mob der Köpfe rollen ließ war Goethe verhasst: "Nichts ist widerwärtige als die Majorität." Die Revolution sollte von Gelehrten, vernünftigen Menschen gemacht werden, also von der Minderheit der reichen Bürger und fortschrittlichen Adeligen: "Alles Große und Gescheite existiert in der Minorität."23 Goethe lehnte also die französische Revolution ab, weil die seiner humanistischen Orientierung widersprach. Ruhe und Ordnung ist die Voraussetzung für die Umsetzung seines reformistischen Weges über die geistige Aufklärung und Ausbildung der Menschheit. Genau diese Ruhe und Ordnung hat die voranschreitende französische Revolution zerstört. Und in den 1796 erschienenen Xenien schreibt er: Revolutionen Was einst das Luthertum war ist jetzt das Franztum in diesen Letzten Tagen, es drängt ruhige Bildung zurück. Doch Goethe verabscheut den Aufstand nicht nur, weil er seinem humanistischen Zielstreben widersprach, sondern auch, weil er eine falsche Einschätzung seiner Ursachen hatte. Goethe blieben die Gründe der Revolution jahrelang ein Rätsel, bis er sich schließlich dazu durchrang, sie dem übertriebenen Luxus, der offen zur Schau gestellten Verschwendungssucht und der Ungerechtigkeit des Adels zuzuschieben. Die wahren sozialen Hintergründe, weshalb die verarmten Massen so verbissen um ihre Freiheit kämpften, weshalb die französische Revolution so blutig verlaufen musste, blieben ihm zeitlebens unbekannt. Aus diesen Gründen ist Goethes Ablehnung der französischen Revolution, ja Revolution überhaupt, immer etwas stärker ausgeprägt, als seine Kritik am Feudalsystem. Auch wich Goethe von der hierarchisch-feudalen Regierungsform nicht ab. Von Volkesherrschaft hält er nichts. In den Vier Jahreszeiten formuliert er dies sehr deutlich: Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er macht das Kleine recht. Der Große begehrt just so das Große zu tun. Interessant ist hier, dass diese Einstellung Goethes alles andere als neu ist und nicht erst nach der Französischen Revolution entstanden ist. Schon in einem Werk, welche von Ende seiner Sturm und Drang Zeit bis hinein in die Klassik reicht, dem Egmont, kommt er zu dem Schluss, das Volk aus zweierlei Gründen nicht fähig ist, Graf Egmont aus seiner Gefangenschaft zu befreien: Erstens wegen der Schreckensherrschaft des Herzogs von Alba. Zweitens jedoch, da das Volk nach Goethes Einschätzung nicht zum Subjekt von Geschichte und Politik befähigt ist.24 # Bewältigung der Französischen Revolution Lange hat Goethe nach einer passenden Möglichkeit gesucht, die Ereignisse der Französischen Revolution zu bewältigen. Ein Jahrzehnt ist vergangen, bis er sie gefunden hatte. Obwohl sein Werk Die natürliche Tochter, noch vor dem Jahr 1788, also noch vor der Französischen Revolution spielt, bezieht es sich auf die Französische Revolution 1789, wie vor allem die Textstelle „Diesem Reich droht / Ein jäher Umsturz“25 und viele ähnliche Andeutungen zeigen. Eugenie, Hauptfigur in Die natürliche Tochter, kann deshalb ein Gefäß für Goethes Gedanken sein, weil sie die Rolle eines Opfers spielt. Goethe und seine deutschen Zeitgenossen haben die Revolution selbst nicht aktiv miterlebt. Sie waren nicht betroffen von den Ereignissen, sondern von den Folgen; sie waren die 'Opfer' der Revolution. Eugenie wird durch Intrigen, Lüge und Verrat um ihre glanzvolle Zukunft gebracht. Sie soll für immer in eine Strafkolonie auf einer Insel verbannt, um dem habgierigen Sohn des Herzogs den Weg zum Thron frei zu machen. Sie kann ihrem Schicksal nur entgehen, wenn sie ihrem großen Leben entsagt und sich zurückzieht, in die kleine Welt, ins Persönliche. Faust tat seinerzeit genau das Gegenteil, in seinem unendlichen Streben. Goethe stand am Anfang des 19. Jahrhunderts vor der selben Entscheidung. Aber Faust war kein Dichter. Goethe beschreibt mit dem Weg Eugenies nicht nur ihre Zukunft, sondern auch seine eigene. Eigentlich hatte Goethe eine Triologie der natürlichen Tochter geplant. Doch Goethe hat nie mehr als die Schemata der Fortsetzung fertiggestellt. In ihnen wird jedoch der enge Zusammenhang mit der Französischen Revolutionen deutlich, weil er direkt auf sie eingeht; der zweite Teil hätte nicht vor, sondern während der Revolution gespielt. Goethe hatte jedoch keinen Grund mehr, an einer Fortsetzung dieses Stückes zu arbeiten, da bereits in der natürlichen Tochter, wie sie uns vorliegt, alles gesagt wird. # Widerspruch
Die Ursache für Goethes Abscheu gegenüber den revolutionären Volksmassen und ihren Maßnahmen ist letzten Endes in seiner widersprüchlichen gesellschaftlichen Stellung zu suchen. Einerseits gehörte er dem Bürgertum an, einer revolutionären Klasse. Doch die kirchliche Bevormundung hemmte die Entwicklung des Geisteslebens, die feudale Kleinstaaterei fesselte die wirtschaftliche Entwicklung. Natürlich träumte das Bürgertum davon, endlich die Fesseln des Feudalismus abzuwerfen und der Herr im Haus zu werden. Aber seine revolutionäre Klasse passte sich wegen ihrer eigenen Rückständigkeit dem Adel an, profitierte von den bestehenden Verhältnissen und verlor damit ihre revolutionäre Rolle. Goethe ist für seine Klasse ein sehr gutes Beispiel: Er hatte als Bürgerlicher im feudalen Staat hohe Posten inne. Er ging nicht nur bei Fürsten ein und aus, er wurde geheimer Rat, dann in den Adelsstand erhoben und schließlich sogar Staatsbeamter. Goethe war anfangs ein revolutionärer Denker. Aber er wurde auch ein reaktionärer Spießer: "Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetz."26 Und: "Was machst du an der Welt? Sie ist schon gemacht; / der Herr der Schöpfung hat alles bedacht." Auch was das Verhältnis der Geschlechter angeht war Goethe alles andere als fortschrittlich: "Man erzieht die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es überall wohl stehen."27 Goethe ist genial und absolut lesenswert. Aber halten wir uns nicht an die Ratschläge, die er uns als alter, dem Feudalismus angepasster Spießer erteilt. Aus seinen revolutionären Denkmethoden können wir revolutionäre Schlüsse ziehen. Aber denken alleine reicht nicht - was zählt, ist die Tat! [ F U S S N O T E N ] 1. Friedrich Engels, Deutsche Zustände (15. Oktober 1845), MEW, Bd. 2, S. 564-568 2. J. W. Goethe, Gespräch mit Eckermann, 1.9.1829 3. J. W. Goethe, Egmont, 4. Aufzug; Goethe hat mehr als 15 Jahre an diesem Werk gearbeitet. Doch vorallem diese Szene war Goethe eine große Hürde. Die Erfahrungen, die er während seinem ersten Jahr in Weimar gemacht hat, ließen ihn mit Resignation einsehen, welche engen Grenzen der Wirkungsmöglichkeit gezogen sind. Für einen glorifizierenden Enthusiasmus im Zeichen des Freiheitsgefühls bleibt dem Weimarer Goethe keine Stimme mehr. (Reclam, Interpreationen) 4. J. W. Goethe, Faust I, V. 2836-38, Reclam (im Folgenden nur angegeben, wenn nicht aus Reclam Ausgabe) 5. J. W. Goethe, Faust I, Studienzimmer, V. 1224-1236 6. Abgedruckt in Interpretationen – Gedichte von J. W. Goethe, S. 58, Reclam 7. Abgedruckt in Literaturwissen – J. W. Goethe, S.87, Reclam 8. J. W. Goethe, Götz von Berlichingen, 1. Akt. Jagsthausen, S. 33 9. J. W. Goethe, Götz von Berlichingen, 1. Akt. Herberge im Wald, S. 9/11 10. J. W. Goethe, Götz von Berlichingen, 4. Akt. Jagsthausen, S. 90 11. nach Walter Hinderer, Interpretationen – Goethes Dramen, S.26, Reclam 12. J. W. Goethe, Götz von Berlichingen, 5. Akt. Gärtchen am Turm, S. 111 13. Ebd 14. J. W. Goethe, Götz von Berlichingen, 3. Akt. Saal, S. 75/76 15. Abgedruckt in Literaturwissen – J. W. Goethe, S.26, Reclam 16. Hartmut Reinhard, Interpreationen – Goethes Dramen, S. 187, Reclam 17. An Frau von Stein, abgedruckt in Literaturwissen – J. W. Goethe, S.28, Reclam 18. J. W. Goethe, Divan, Buch des Sängers, Hegire 19. J. W. Goethe, Kampagne in Frankreich, 19.9.1792 20. J. W. Goethe, Gott und Welt 21. J. W. Goethe, Faust I, V. 1339-41 22. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen 833 23. J. W. Goethe, Gespräch mit Eckermann, 12.2.1829 24. nach Hartmut Reinhardt, Interpretationen – Goethes Dramen, S.191, Reclam 25. J. W. Goethe, Die natürliche Tochter, V. 2825/6 26. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen 832 27. Wahlverwandtschaften II, 7
Zeittafel der in diesem Kontext bedeutsamen Ereignisse 1749 Geburt Johann Wolfgang Goethes am 28. August in Frankfurt am Main 1765 Aufnahmen seines Studiums der Rechtswissenschaften auf drängen seines Vaters 1769 Fortsetzung des Studiums in Straßburg und Kontakt zu dortigen Stürmern und Drängern 1771 Erste Fassung des Götz von Berlichingen 1773 Prometheus, Götz von Berlichingen (zwiete Fassung) 1775 Beginn des Egmont Urfaust abgeschlossen (Universitätssatire und Gretchentragödie) 1776 Goethe beschließt in Weimar zu bleiben, sein Ende des Sturm und Drang 1779 Ernennung zum geheimen Rat 1782 Goethe wird geadelt 1786 Am 3. September heimliche Abreise nach Italien, ins Land der Künste 1787 Egmont abgeschlossen 1788 Arbeiten am Faust und Tasso Am 18. Juni wieder in Weimar 1789 Torquanto Tasso abgeschlossen Ausbruch der Französischen Revolution 1792 Teilnahme an der Campagene in Frankreich 1793 21. Januar: Hinrichtung Ludwigs XVI 1799-1803 Die natürliche Tochter 1832 22. März: Goethes Tod Prometheus Bedecke deinen Himmel Zeus Mit Wolkendunst!
Und übe Knabengleich Der Diesteln köpft An Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte Die du nicht gebaut, Und meinen Herd Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn als euch Götter. Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußt wo aus wo ein Kehrte mein verirrtes Aug Zur Sonne, als wenn drüber wär Ein Ohr zu hören meine Klage Ein Herz wie meins Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir wider Der Titanen Übermut Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverei? Hast du's nicht alles selbst vollendet Heilig glühend Herz Und glühtest jung und gut Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden dadroben Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal Meine Herrn und deine. Wähntest etwa Ich sollte das Leben hassen In Wüsten fliehn, Weil nicht alle Knabenmorgen Blütenträume reiften. Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde Ein Geschlecht, das mir gleich sei Zu leiden, weinen Genießen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten Wie ich! (Reclam, Interpretationen)
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 2; Dietz Verlag, Berlin Richard Dobel: Lexikon der Goethe-Zitate; dtv, München, 1995 Richard Friedenthal: Goethe – sein Leben und seine Zeit; Piper Verlag Nicholas Boyle: Goethe II 1790-1803; Verlag C.H.Beck, München, 1999 Herbert Schnierle: Goethe und die Französische Revolution Antal Szerb: Geschichte der Weltliteratur, 1941 Kurt Rothmann: Literaturwissen -- Johann Wolfgang Goethe; Reclam, 1994 J. W. Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand – Ein Schauspiel (2. Fassung, 1773); Reclam, 1993 J. W. Goethe: Faust – Der Tragödie erster Teil (1773-1806); Reclam, 1986 J. W. Goethe: Die natürliche Tochter (1799-1803); Reclam, 1999 J. W. Goethe: Egmont (1774-1788); Reclam, 1999 Walter Hinderer: Interpretationen – Goethes Dramen (div. Autoren); Reclam, 1999 Bernd Witte: Interpretationen – Gedichte von Johann Wolfgang Goethe (div. Autoren); Reclam, 1998 Eva Brinckschulte: Erläuterungen zu J. W. v. Goethe Götz von Berlichingen; C. Bange Verlag, Hollfeld, 7. Auflage 1997 Hans Gerd Rötzer: Geschichte der deutschen Literatur; C. C. Buchner Verlag, 1. Auflage 1996 Heinz Ludwig Arnold: Text+Kritik Sonderband – Johann Wolfgang Goethe (div. Autoren); edition text+kritik, München, 1982 Ulrich Ott: Französische Revolution und deutsche Literatur; Deutsche Schriftstellergesellschaft Marbach am Neckar, 1989
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