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Max Frisch - Referat



Max Frisch: Biografie. Ein Spiel

1. Der Autor: Max Frisch

1.1 Biografie

Am 15. Mai 1911 wird Max Frisch als Sohn des Architekten Franz Bruno Frisch und der Karolina Bettina Frisch geboren. Mit seinen Geschwistern Emma Elisabeth (geb. 1899) und Franz (geb. 1903) wächst er in seiner Geburtsstadt Zürich auf. Von 1924 bis 1930 besucht Frisch das kantonale Realgymnasium, bevor er ein Germanistikstudium an der Universität Zürich aufnimmt. Schon nach zwei Jahren ist Frisch wegen dem plötzlichen Tod seines Vaters gezwungen, sein Studium abzubrechen, um seine mittellose Familie finanziell zu unterstützen. Er arbeitet im folgenden Jahr als Journalist bei der Neuen Zürcher Zeitung, der Frankfurter Zeitung sowie der Kölnischen Zeitung. Im Frühjahr 1933 unternimmt Frisch ausgedehnte Reisen nach Ost- und Südeuropa, welche er hauptsächlich durch Sportberichterstattung finanziert. Einige Monate nach seiner Rückkehr reist er nach Deutschland, wo er seine erste Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus erlebt. Zurück in der Schweiz vernichtet er aus unbekannten Gründen alle seine bisherigen literarischen Werke und beginnt 1936 ein Architekturstudium an der technischen Hochschule Zürich. Im August 1940 promoviert er und gewinnt im selben Jahr mit seinen Entwürfen zum Neubau des Zürcher Freibades ´Letzigraben´ den ersten Preis. 1942 heiratet er seine ehemalige Studienkollegin Gertrud Constance von Meyenburg, ein Jahr später wird die gemeinsame Tochter Ursula geboren. In den folgenden Jahren schliesst Frisch Bekanntschaft mit Friedrich Dürrenmatt, Peter Suhrkamp, Günter Grass und Berthold Brecht, dessen Einflüsse im Stück Graf Öderland stark spürbar sind. Im Januar 1949 kommt Frischs zweite Tochter Charlotte zur Welt. Seine Ehe verläuft aber nicht glücklich, die Familie lebt sich auseinander. Nachdem Frisch von einem einjährigen Aufenthalt in den USA zurückgekehrt ist, trennt er sich 1954 von seiner Frau Marianne. 1955 verkauft er sein erfolgreiches Architekturbüro und widmet sich der Literatur. Um neue Ideen und Inspiration für seine Texte zu finden, unternimmt Frisch immer wieder Reisen nach Mittel- und Osteuropa. 1958 lernt er seine spätere Lebensgefährtin Ingeborg Bachmann (1926-1973) kennen, die in Deutschland als Dichterin bekannt war. Im selben Jahr erhält Frisch den Georg-Büchner-Preis sowie den Literaturpreis der Stadt Zürich. 1962 trifft Frisch die Studentin Marianne Oellers (geb. 1939), mit der er in den folgenden Jahren zusammenlebt und die er 1986 heiratet. Während der Ehe schreibt Frisch zahlreiche Romane und Theaterstücke, erhält 1987 den Ehrendoktor der TU Berlin und der Universität Birmingham. Auch Frischs zweite Ehe endet mit der Scheidung. 1980 wird die Max-Frisch-Stiftung gegründet, ein später das Max-Frisch-Archiv der ETH Zürich. Am 4. April 1991 stirbt Max Frisch in seiner Wohnung in Zürich.







1.2 Bibliografie

Dramen


1944 Santa Cruz

1945 Als der Krieg zu Ende war

1946 Nun singen sie wieder

1947 Die chinesische Mauer

1951 Graf Öderland

1953 Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie

1958 Biedermann und die Brandstifter
1961 Andorra

1967 Biografie. Ein Spiel

1978 Triptychon



Romane und Erzählungen


1934 Jürgen Reinhart- eine sommerliche Schicksalsfahrt

1937 Antwort aus der Stille

1943 Die Schwierigen

1945 Bin oder die Reise nach Peking

1959 Stiller

1957 Homo Faber

1964 Mein Name sei Gantenbein

1975 Montauk

1979 Der Mensch erscheint im Holozän





1.3 Literarische Formen der Nachkriegszeit



Während des Krieges und auch in der Nachkriegszeit entstanden viele literarisch anspruchslose „Trümmerromane“. Diese spiegeln die ungewisse und übersichtlose Zeit wieder, in der sich Europa von den Nachwirkungen des 2. Weltkrieges erholte und sich wirtschaftlich wie auch kulturell neu orientieren musste. Gleichzeitig kam die „naturmagische Lyrik“ auf, zu deren meistgenannten Autoren Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann gehören. Zur selben Zeit wurden die Grenzen verschiedener Literatursorten vermischt. Das Hörspiel, das aus der bunten Mischung von Epik, Drama, Monolog und Dialog entstand, wurde zur Kunstform. Die Hörspiele von Günter Eich, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch füllten die Abendprogramme der deutschen Radiosender.

Die Texte der Nachkriegszeit beschäftigen sich oft mit der Philosophie des Existentialismus, so auch Frischs Werke, und mit dem technisierten und industrialisierten Alltagsleben. Fast alle Texte, insbesondere die ausländische Literatur, wiesen die Form der Erzählung auf. Die daraus entstandene Kurzgeschichte wurde vor allem durch Ernest Hemingway bekannt. Das deutschsprachige Europa, das sich im Prozess der Neuorientierung befand, übernahm die neue literarische Stilrichtung begeistert und löste den Boom der Kurzgeschichte auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus.






1. 4 Zentrale Themen und Prägungen



Max Frischs intensivste Jahre des schriftstellerischen Schaffens waren vor allem von den Ereignissen des 2. Weltkrieges geprägt. Den Aufstieg und die Machtergreifung Hitlers verfolgte und analysierte er kritisch, viele Eindrücke und Erinnerungen spiegeln sich in seinen Werken wider. Frisch zählt zu den wichtigsten Autoren der Nachkriegszeit.

In zahlreichen Texten vertritt er die Ansicht, dass die Literatur vor den Schrecklichkeiten des Krieges nicht die Augen verschliessen dürfe, im Gegenteil, sie sei dazu aufgerufen, die Begebenheiten zu hinterfragen und zu dokumentieren. Nur so könne man neue Kriegshandlungen vermeiden.

In den Nachkriegsjahren beschäftigte sich Frisch immer wieder mit Rassismus und der Problematik von Klassenunterschieden: auch hier zeigen sich eindeutige Nachwirkungen des Krieges. Seine Schriften kreisen aber nicht nur um die augenfälligen politischen und sozialen Missstände der Gesellschaft, sondern auch um die Probleme des einzelnen Menschen. Frisch macht in den meisten Werken die Beziehungen der Menschen untereinander und die Frage nach dem eigenen Ich zum zentralen Thema. Häufig quälen sich die Hauptfiguren mit der Frage ´Wer bin ich?´ oder ´Wohin gehöre ich?´ und versuchen, ihrem anscheinend nutzlosen Tun einen Sinn abzugewinnen. Die Auseinandersetzung mit dem Lebensweg wird für sie nicht selten zum tragischen, wenn auch klärenden Erlebnis.

Wie kommt es, das Frischs Hauptfiguren immer wieder aus denselben Motiven handeln? Die Vermutung liegt nahe, dass Frisch selbst mit diesen existentiellen Fragen konfrontiert war und die Gestalten aus seinen Texten an seiner Stelle nach Antworten suchen.

Bei einem Werkstattgespräch sagte er: „Ich will doch nicht ein Leben lang dieser Max Frisch sein! Bei jeder neuen Arbeit hatte ich das naive Gefühl, dass ich jetzt, Gott sei Dank, ein radikal anderes Thema angehe- um früher oder später festzustellen, dass alles, was nicht radikal misslingt, das radikal gleiche Thema hat.“[1]

Auch Frischs negativen Erfahrungen mit der Ehe prägen ihn. Oft leben die Hauptfiguren seiner Werke in schwierigen und konfliktgeladenen Ehen und verarbeiten Frischs eigene Erfahrungen. Seine problematischen Beziehungen spiegeln sich vor allem in den Romanen (Stiller) wider, die er zeitgleich mit den Scheidungsprozessen verfasste.







2. Biografie. Ein Spiel



2.1 Die Entstehung



Frisch geriet nach zahlreichen ähnlich gestalteten Werken in eine Sackgasse und versuchte, in den folgenden Texten eine neue Dramaturgie zu schaffen und eine neue Form des Theaters zu kreieren. Vor allem von Parabeln, die dem Zuschauer oder Leser unweigerlich eine Lehre einbläuen, distanzierte er sich. Laut Frisch wiederspreche jegliche Belehrung, die Parabeln auf der Bühne erzeugen, den alltäglichen Erfahrungen.

„Es geht nicht darum, dass ich mich in der Parabel nicht mehr wohlgefühlt habe... die Parabel hat doch immanent etwas Didaktisches; sie will etwas zeigen, oder die Form drängt zu einer Message, die mir gar nicht so sehr am Herzen liegt.“[2]

Frisch rückte von seinen bisherigen Grundpositionen ab, indem er dem modernen Theater durch Rollenspiele, Zufälle und unglaubliche Überraschungen eine neue Struktur gab.

Biografie sollte eine Komödie werden und den Trott, in den Frischs Werke gefallen waren, endlich durchbrechen. Tatsächlich zeigte das Theaterstück einen veränderten Max Frisch, denn zum ersten wies Biografie, ähnlich wie dem vorangehenden Werk Mein Name sei Gantenbein, einen tagebuchartigen Aufbau auf, was beim deutschen Theater neu war. Zum zweiten basierte das Stück nicht auf einer epischen Struktur, sondern war nur an deren Form angenähert, ansonsten verzichtete Frisch auf das epische Grundgerüst.





2.2 Das Möglichkeitsspiel



Max Frisch ging von der These aus, dass der Verlauf des Lebens nicht auf Vorbestimmung beruhe, sondern nur eine Möglichkeit von vielen Varianten sei und durchaus ganz anders hätte verlaufen können. Zwar habe man unweigerlich mit der Zeit eine Biografie[3], aber die Variantenvielfalt verändere sich dadurch nicht.

Mit diesen Thesen stellte er sich gegen die politischen Weltbilder der 60ger Jahre. Damals war die Ansicht verbreitet, dass sich hinter jedem Ereignis eine Gesetzlichkeit verstecke.

Frisch wollte diese scheinbar altmodischen Ansichten durch moderne Anschauungen ersetzen. Durch die Hauptperson Kürmann versucht er in Biografie. Ein Spiel, die Weltbilder komödiantisch zu hinterfragen. In Biografie geschieht nämlich, was die Realität nicht gestattet: den Lebensfaden zurückzuspulen und ihn an jeder beliebigen Stelle neu zu spinnen. In einem Brief an Walter Höllerer beschrieb er Biografie. Ein Spiel als „Variantentheater“ und „Möglichkeitsspiel“. So erhält Kürmann, die Hauptfigur, die Möglichkeit, Szenen aus seinem Leben zu wiederholen und einen anderen Verlauf herbeizuführen. Auf Grund Frischs Wunsch, alte Ansichten zu überwinden, müsste man meinen, Kürmann könnte alle seine Fehler beim zweiten Versuch ausmerzen. Doch es gelingt ihm nur wenige Male, sein Leben wirklich zu ändern, alle anderen Abänderungen bleiben Variationen des Banalen.

Deshalb wurde dem Stück die parabelhafte Aussage entnommen, dass sich die Biografie auch im Wiederholungsfalle nicht abändern lasse. Doch dies hatte Frisch gar nicht vermitteln wollen, im Gegenteil. Biografie wurde wegen seiner missverständlichen Aussage, die laut Frisch komödiantisch aufgefasst werden müsste, oft falsch gedeutet. Frisch sagte, er habe „es als Komödie gemeint“[4], doch das Publikum nahm sein Werk als Tragödie auf, da ihnen Kürmanns Geschichte nicht heiter, sondern tragisch erschien. Es kostete Frisch einige Mühe, die falschen Interpretationen des Publikums und der Kritiker richtig zu stellen.





2.3 Die Handlung



Hannes Kürmann, ein erfolgreicher Verhaltensforscher, erhält die Chance, seinen Lebenslauf nach Belieben abzuändern. Er darf eigens bestimmen, welche Szenen er wiederholen möchte, um einen jeweils anderen Lebensverlauf zu bezwecken. Seine Reise in die Vergangenheit muss er nicht alleine bestreiten. Der objektive Betreuer, der im Theaterstück als „Registrator“ bezeichnet wird, begleitet Kürmann durch alle Szenen, berät ihn und weist ihn auf Fehler und Wiederholungen hin. Hat Kürmann eine Situation anders bestritten als in seiner ´ersten Biografie´, notiert der Registrator die Abänderung in das Dossier, in welchen Kürmanns Lebensdaten als eine Art Tagebuch festgehalten werden.

Doch auch diese verlockende Gelegenheit hat ihre Spielregeln. Kürmann kann ein Geschehnis nicht allein durch seinen Wunsch ändern, im Gegenteil, er muss die Szene selbst spielen und die Änderung eigenhändig herbeiführen. Nur was er selber ändert, notiert der Registrator im Dossier. Zudem kann Kürmann das Verhalten seiner Mitmenschen nicht beeinflussen, diese sind in ihrer Wortwahl und Handlung frei. „Was sie wählen können, ist ihr eigenes Verhalten.“[5], sagt der Registrator zu seinem Schützling.

Eine weitere Einschränkung ist, dass Kürmann seine Fähigkeiten nicht leugnen kann. Alles, was ihm als Persönlichkeit gegeben ist, darf er nicht verändern. Immerhin besteht aber die Möglichkeit, Vorhandenes nach Gutdünken einzusetzen. So darf er beispielsweise seine Intelligenz nicht vermindern, aber es steht ihm frei, sie zu gebrauchen oder nicht, oder sie zu spezialisieren, beispielsweise als politische Intelligenz oder als Fachintelligenz.

Kürmann versucht als erstes, seine Ehe mit der gescheiten und schönen Antoinette zu verhindern, da er ihr die Schuld für sein unglückliches Leben gibt. Er wiederholt die Szene des ersten Treffens mehrmals, bewirkt jedoch keine Veränderung. Welche Massnahmen er auch ergreift, seine Ehe kann er nicht verhindern. Kürmann merkt, dass nicht seine Frau, sondern er selbst für sein Unglück verantwortlich ist.

Er resigniert und versucht als nächstes, seine Jugend zu ändern. Kürmann begegnet seinem Mitschüler Rotz, dem er einen Schneeball ins Gesicht geworfen hatte, und der deswegen blind geworden war. Später trifft er seine damalige Geliebte namens Helen und gleich danach seine erste Gattin Katrin, die sich nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Thomas umgebracht hat. Doch auch hier gelingt es ihm nicht, eine einschneidende Veränderung zu bezwecken.

Enttäuscht über sein Unvermögen, die zweite Biografie besser zu gestalten, tritt er in die Kommunistische Partei ein. Dieser Schritt kostet ihn zwar die Professur, wirkt sich aber nur wenig auf seinen Werdegang aus. Auch die weiteren Versuche, sich von Antoinette zu trennen, scheitern. Um Antoinette endgültig aus seinem Leben zu scheuchen, weiss er keine andere Lösung, als sie umzubringen. Er schiesst fünf Mal auf sie, doch er lässt die Abänderung der Biografie nicht im Dossier eintragen, folglich bleibt die erste Biografie die definitive. Am Ende des Stückes unterscheidet sich die endgültige Lebensvariante nur geringfügig von der ersten Biografie, doch immerhin gelang es Kürmann, überhaupt eine Veränderung durchzusetzen. Kürmann ist von allen Werken Frischs die einzige Person, der eine Änderung der Biografie gelingt. Hier zeigt sich wieder Frischs Absicht, sich von früheren Werken zu distanzieren.



2.5 Der Aufbau und die Sprache



Das Stück besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil kehrt Kürmann in die Vergangenheit zurück, im zweiten erforscht er die Zukunft. Die Unterbrechung
zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ist absichtlich gesetzt: hier ist die Pause einkalkuliert. Das Stück sieht dreiunddreissig Sprechrollen vor, daneben werden aber auch noch Bühnenarbeiter, Armeesoldaten und Balletttänzerinnen gebraucht.

Das Stück setzt sich aus vielen Komponenten zusammen: nebst den Schauspielern, die den aktiven und folglich unübersehbaren Part übernehmen, werden viele dramaturgische Hilfsmittel eingesetzt. Das häufig wechselnde Bühnenbild schafft nicht nur Abwechslung, sondern symbolisiert den Lebensverlauf, der sprunghaft wechseln kann und dessen Schauplatz der steten Veränderung unterliegt. Auch das Spiel mit zwei verschiedenen Lichtsorten und die wiederkehrenden Hintergrundgeräusche, zum Beispiel die Klaviertakte, erzeugen Spannung und bieten Auge und Ohr ein abwechslungsreiches Bühnenbild.

Die Sprache ist modern und gut verständlich. Da Kürmann von der Mittelschicht stammt, spricht er gesittet und nur sehr selten ausfallend. Auch Antoinette und der Registrator sprechen eine gepflegte Sprache. Die kurzen und prägnanten Sätze tragen zum Verständnis bei und verdeutlichen die gespannte Stimmung, in der Kürmann sich befindet.







3. Die drei Hauptpersonen


3.1 Hannes Kürmann



Frischs Bestreben war, Biografie nicht auf epischen Grundstrukturen basieren zu lassen. Deswegen spaltete er Kürmanns Ich in zwei Personen auf, um dem Stück seinen epischen Anschein zu nehmen. Hannes Kürmann und sein Gefährte, der Registrator, bilden zusammen das eigentliche Ich. Kürmann vertritt die emotionalen, expressiven Züge seiner selbst. Er weiss nur, was er wissen will, und handelt auf Grund seiner jeweiligen Gefühlslagen. Nicht selten verfällt er der Irrealität. Der Registrator repräsentiert Kürmanns vollständiges Bewusstsein, das vor allem rational und objektiv agiert, und sich ausschliesslich in der Realität bewegt. Zusammen vertreten sie die zwei Grundeinheiten des Menschen: Das emotionale, gefühlsbetonte Denken und die realistische Klarsicht.

Kürmann, dessen Biografie einen ansehnlichen Verlauf beschreibt, ist davon überzeugt, dass sein Lebensweg nicht der einzig mögliche ist. Er sagt: „Ich weigere mich, dass wir allem, was einmal geschehen ist -weil es Geschichte geworden ist und somit unwiderruflich-, einen Sinn unterstellen, der ihm nicht zukommt.“[6] Hannes Kürmann glaubt, dass es keine Handlung und keine Unterlassung gibt, die für die Zukunft nicht Varianten zuliesse.

3.2 Der Registrator



Der Spielleiter, genannt Registrator, berät Kürmann während der Neugestaltung seiner Biografie und begleitet ihn. Er übernimmt aber weder eine Lehrfunktion, noch drängt er Kürmann in eine Rolle oder richtet über die fehlgeschlagenen Änderungsversuche. Kürmann ist in seinen Entscheidungen völlig frei und von Seiten des Registrators unbeeinflusst.

Der Spielleiter ist eine Mischung zwischen Regisseur und Verwalter von Kürmanns Lebensdaten, die in einem Dossier aufgelistet sind. Durch seine Neutralität und Sachlichkeit übernimmt er die Funktion des rationalen Beraters. Er unterstützt Kürmann, indem er dessen Verhalten objektiviert.

Der Registrator verfügt über alle Fakten und weiss somit alles, was Kürmann auch von sich selbst wissen müsste. Er ist also gewissermassen ein Teil von Kürmanns Ich, das aus dramaturgischen Gründen als zweite Person dargestellt wird. Folglich vertritt der Registrator keine höhere Instanz, sondern spricht lediglich die nüchternen und unparteiischen Sachverhalte aus, die sich Kürmann selber vor Augen führen könnte. Die Rolle des Spielleiters vertritt aber nicht nur einen Teil Kürmanns, sondern stellt das Theater an sich dar, das gestattet, was die Wirklichkeit verbietet: „zu wiederholen, zu probieren, zu ändern.“[7]





3.3 Antoinette



Kürmanns Ehefrau, die emanzipierte und kluge Antoinette, steht mit beiden Beinen im Leben und verkörpert die moderne Powerfrau. Sie wünscht sich, bald eine eigene Galerie zu eröffnen. Antoinette ist aber nicht nur geschäftstüchtig, sondern auch untreu. Während der unglücklichen Ehe mit Kürmann trifft sie sich oft mit ihrem Geliebten namens Egon. Kürmann kommt der Affäre auf die Spur, doch Antoinette führt ihr Verhältnis unbeeindruckt fort. Doch was die Ehe am meisten belastet, ist nicht etwa ihre Untreue, sondern die Tatsache, dass Antoinette mental stärker ist als Kürmann. Die Überlegenheit Antoinettes lässt Kürmann immer wieder daran scheitern, einer Szene Herr zu werden. Erst durch die intensive Unterstützung des Registrators gelingt es ihm, die Dominanz seiner Frau zu überbieten.

Antoinettes Stärke und Konsequenz sind es, die das Theaterstücke überraschend beenden: der Registrator bietet nun ihr an, ihre Biografie zu ändern. Antoinette zögert keine Sekunde, wählt die Szene des ersten Treffens, an der Kürmann sooft gescheitert ist, und verhindert die unglückliche Ehe.





4. Interpretation



4.1 Das Dossier



Die Akte Kürmanns, in der sämtliche Fakten festgehalten sind, wird Dossier genannt. Die Einsicht in das Dokument ist allein dem Registrator vorbehalten. Das Dossier gleicht einem Tagebuch, denn jedes Ereignis in Kürmanns Leben wurde sorgsam eingetragen. Die Aufzeichnung wurden aber weder von ihm selbst verfasst, noch von einer Behörde angelegt. Das Dossier entspricht dem gesamten Erinnerungsvermögen Kürmanns, und beinhaltet somit alle Fakten, die in seinem Bewusstsein existieren müssten. Gleichzeitig dient es dem Registrator als Mittel, sich in Kürmanns Leben zurechtzufinden und den Überblick zu wahren. Das Dossier ist laut Frisch „die Summe dessen, was Geschichte geworden ist.“[8]



4.2 Spiel- und Arbeitslicht



Während des Stückes wechselt die Beleuchtung zwischen dem Spiel- und dem Arbeitslicht (Neon-Licht) ab. Dies schafft nicht nur optische Abwechslung, sondern hat auch dramaturgischen Sinn. Das Spiellicht erleuchtet die Bühne immer dann, wenn Kürmann eine Szene spielt und eine neue Variante ausprobiert. Sobald der Registrator unterbricht und das Spiel stoppt, um Kürmann auf einen Fehler oder eine unerlaubte Handlung aufmerksam zu machen, geht das Arbeitslicht an.

Dieser Lichtwechsel soll nicht Fiktion und Realität trennen, sondern zeigt dem Publikum an, wann eine Szene wirklich gespielt oder nur über eine neue Variante diskutiert wird. Die abwechselnde Beleuchtung dient vor allem zur besseren Verständlichkeit des Stückes.







4.3 Das schlechte Klavier



Schon zu Beginn des Stückes erklingen im Nebenzimmer schlecht gespielte Klaviertakte, die immer wieder abbrechen und von Neuem beginnen. Diese schiefen Töne deuten voraus, dass Kürmann sich in der nächsten Szene wiederholt und in seine alten Verhaltensmuster zurückfällt, sprich, dass ihm die Veränderung nicht gelingt. Sie ertönen nämlich immer vor einer Szene, an der Kürmann scheitern wird, und deuten somit das Misslingen der Biografieänderung voraus. Die Takte entsprechen genau der Handlungsweise Kürmanns: Er beginnt eine Szene, um sie wenig später abzubrechen und nochmals von vorne zu beginnen. So erhält das Klavier nicht nur eine dramaturgische, sondern auch eine symbolische Bedeutung.





4.4 Gefangen in der Spieluhr



„Spieluhren faszinieren mich: Figuren, die immer die gleichen Gesten machen, sobald es klimpert, und immer ist es dieselbe Walze, trotzdem ist man gespannt jedesmal.“[9]

Mit Antoinettes Bemerkung über die Spieluhr, die in Kürmanns Wohnung steht, ist der Änderungsversuch von Kürmanns Leben zum Scheitern verurteilt. Unbewusst sagt sie, wie Kürmann sich bei seiner Lebensreise verhält: er macht immer dieselben Gesten, sobald es klimpert, dass heisst, sobald die Klaviertakte ertönen. Trotzdem ist das Publikum jedes Mal gespannt, ob ihm die nächste Szene gelingen wird.

Kürmann ist anfangs gefangen in seiner Spieluhr, vermag es nicht, ihr zu entfliehen. Deshalb scheitern auch die Versuche, die Ehe mit Antoinette zu verhindern. Kürmann kann sich, obwohl er es nicht will, nicht von seiner festen Rolle in der Spieluhr lösen.

Erst bei einer nächsten Szene verlangt Kürmann, dass die Spieluhr in seiner Wohnung entfernt wird, worauf sie von einem Bühnenarbeiter weggetragen wird. Endlich scheint der Bann gebrochen, das Gelingen seines Änderungswunsches nicht mehr unmöglich zu sein. Tatsächlich kann Kürmann seine Biografie abändern, er tritt in die Kommunistische Partei ein. Kürmann feiert seinen Erfolg, doch die Neuheit wirkt sich aber kaum auf die Entwicklung seines weiteren Lebens aus. Jedoch sind seine Experimente endlich von Erfolg gekrönt.









4.5 Die hartnäckige Antoinette



Kürmann versagt immerzu darin, die Ehe mit Antoinette zu verhindern. Doch wenn dies sein sehnlichster Wunsch ist, wieso kann er sie nicht aus seinem Leben vertreiben?

Der Registrator liefert eine Teilantwort. Er sagt: „Sie verhalten sich nicht zur Gegenwart, sondern zu ihrer Erinnerung. (...) Sie meinen die Zukunft schon zu kennen durch ihre Erfahrung. Drum wird es jedesmal dieselbe Geschichte.“[10]

Die zweite Antwort stützt sich auf Kürmanns Gefühle, auch wenn er diese leugnet. In Wahrheit ist es nicht der vermeintliche Hass, der ihn nicht von seiner Ehefrau wegkommen lässt, sondern die Tatsache, dass er sie noch immer liebt. Trotz seiner Kenntnis über ihre Affären bringt er es nicht über sein Herz, die Scheidung einzureichen, zu sehr hängt er an ihr. Denn wozu wir eine starke Verbindung haben, was uns, in Kürmanns Falle unbewusst, wichtig ist, können wir nicht aus unserem Leben ausschliessen: es bedeutet uns zuviel.

Das ist auch der Grund, weshalb Antoinette die Ehe ohne Fehlschlag verhindern kann: sie liebt Kürmann nicht und hält die Beziehung zu ihm folglich nicht für notwendig. Er bedeutet ihr zu wenig, als dass sie nicht ohne ihn auskäme.







4.6 Schuld ist Gewöhnungssache



Katrin, Kürmanns erste Gattin, begeht während der Ehe Selbstmord. Ein tragisches Ereignis in Kürmanns Leben, für das er zum Teil selbst verantwortlich ist. Er heiratet Katrin, obwohl er weiss, dass die Ehe ein Irrtum ist, und verurteilt sie damit zum Scheitern. Zum zweiten ermuntert er Katrin dazu, sich zu erhängen, weil er ihre Art nicht mehr ertragen kann. Doch bei der Wiederholung seiner Ehe mit Katrin probiert er nicht, sie am Suizid zu hindern. Vernünftig wäre doch, sich von aller Schuld der Vergangenheit reinzuwaschen, um mit weisser Weste und ruhigem Gewissen in die Gegenwart zurückzukehren. Nicht Kürmann, denn er verspürt kein Bedürfnis, das Ereignis ungeschehen zu machen. Er sagt: „Ich habe mich an meine Schuld gewöhnt.“[11]

Im Dossier steht, dass er an jenem Tag, an dem Katrin sich erhängt hat, seine Schuld für untragbar hielt. Nun aber, Jahre später, gelangt er zur Einsicht, dass er trotzdem mit seinem Gewissen leben kann. Die Auffassung und Gewichtung von Schuld ist abhängig vom Zeitpunkt, an dem sie gefühlt wird. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich an sie; sie wird erträglich.





4.7 Die gedichtete Erinnerung



Da Kürmann es nicht vermag, Antoinette nach dem ersten Zusammentreffen aus seinem Leben zu vertreiben, setzt er das Experiment später an. Er wählt den Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht und hofft, wenigstens hier eine Veränderung zu erzielen. Seine Erinnerung sagt ihm, dass Antoinette am besagten Morgen nicht gehen wollte und Kürmann eine Fahrt aufs Land solange schmackhaft gemachte, bis dieser nachgab.

Doch während der Szene merkt Kürmann, dass seine Erinnerung gedichtet hat. Nicht seine Frau ist schuld an jener Nacht und an der Fahrt aufs Land, er selbst hat alles forciert.

„Ich schlafe nicht mit vielen Männern, aber wenn es dazu kommt, bin ich jedesmal froh, Hannes, genau wie Sie, dass ich nachher wieder mit mir alleine bin.“[12] Antoinette hatte nicht vor, länger als nötig bei ihm zu bleiben. Obwohl ihr die Nacht gefallen hat, ist sie froh, wieder ihren eigenen Geschäftlichkeiten nachzugehen.

Kürmann verheddert sich gründlich in seiner eigenen Biografie und stolpert schliesslich über seine Erinnerung, die sich als Hirngespinst entpuppt. Die vermeintlichen Erinnerungen haben ihn zu grundfalschen Ansichten bewegt, weil sie nicht das Abbild der Wahrheit, sondern reine Dichtung sind. Dieser Mechanismus erweist sich für Kürmann als Schutz: er kann die Schuld Antoinette zuschieben und ihr sein misslungenes Leben anlasten; er drückt sich gekonnt vor der Verantwortung für sein eigenes Leben und fühlt sich somit unschuldig; sein Gewissen ist beruhigt. Er muss sich nicht eingestehen, dass er selbst für seine Biografie die Verantwortung trägt, sondern lebt mit den Illusionen, die auf seine falschen Erinnerungen aufgebaut sind.

Gleichzeitig zeigt dies einen markanten Charakterzug Kürmanns auf: Bequemlichkeit. Denn ist es nicht um einiges angenehmer, einem Mitmenschen die Verantwortung für Geschehenes aufzuhalsen, anstatt die unbequeme Aufgabe, für sich selbst gerade zu stehen, zu übernehmen?





4.8 Derselbe Tatbestand



Kürmann entscheidet sich anschliessend, die Ehe mit Antoinette nicht aufzulösen und mit ihr weiterhin sein Leben zu verbringen. Durch die intensive Unterstützung des Registrators gelingt es ihm von Zeit zu Zeit, kleine Veränderungen durchzusetzen. So ohrfeigt er seine Frau nicht, und das Spinett bleibt in der zweiten Fassung unbeschädigt. Er untersteht sich, einen Brief an Antoinette zu öffnen, brüllt diese nicht an und macht ihr, wenn sie von einem Rendezvous mit ihrem Liebhaber zurückkehrt, keine Szene. Kürmann verhält sich einwandfrei. Doch sein untadeliges Benehmen wirkt sich kaum auf die Ehe aus: Antoinette behält ihren Liebhaber, Kürmann ist weiterhin unzufrieden. Nur eines hat sich geändert: Kürmann hat sich nichts vorzuwerfen, er hat sich vorbildlich genommen. Der Registrator sagt: „Insofern hat sich durch ihr einwandfreies Verhalten nichts verändert, aber Sie fühlen sich wohler als in der ersten Fassung: Sie brauchen sich diesmal nicht zu schämen.“[13]

Doch diese Tatsache ist für Kürmann nicht entscheidend, denn sie bringt keine augenfällige Veränderung. Wie oben erwähnt, hält er Schuld für Gewöhnungssache, folglich nützt ihm sein einwandfreies Benehmen nichts. Gerade weil der Tatbestand trotz Kürmanns Bemühungen derselbe geblieben ist, sieht er nur einen Ausweg. Erzürnt über sein Unvermögen, sein zweites Leben besser zu nutzen, bring er Antoinette um: Er zielt mit einem Revolver auf sie und schiesst fünf Mal. „Ich wusste plötzlich, wie es weitergeht.“[14] lautet sein Motiv.

Nachträglich entscheidet sich Kürmann doch für die erste Biografie, die Ermordung Antoinettes wird nicht im Dossier festgehalten.







4.9 Sieben Jahre



Zum Schluss ändert Antoinette ihre und gleichzeitig Kürmanns Biografie, indem sie das Angebot des Registrators annimmt und in ihr eigenes Leben zurückkehrt. Ohne zu zögern verlässt sie Kürmann schon nach der ersten Nacht und bestreitet ihr Leben alleine, wie sie es vor dem schicksalhaften Treffen getan hat. Für sie bedeutet das Verhindern der Ehe Freiheit und Unabhängigkeit, denn sie wollte Kürmann nie heiraten, verfiel aber dem Charme, mit dem er sie umwarb.

Doch nun bleibt Kürmann nichts anderes übrig, als seine Frau gehen zu lassen. Kurz zuvor noch hat er sich entschieden, sich nicht von Antoinette zu trennen; er hat sich mit seiner Biografie abgefunden, welche die definitive Fassung erreicht hat. Doch Antoinette verlässt nun Kürmann, wirft die vollendete Biografie über den Haufen, und zwingt Kürmann zu einem neuen Lebensverlauf. Die Heirat findet nicht statt, Antoinette verschwindet aus Kürmanns Leben. Sieben Jahre bleiben ihm noch bis zu seinem Tod. Schliesslich ist es auch der Tod, der die Frage nach den Varianten überhaupt aufwirft, denn er beendet den Lauf des Lebens und bestimmt somit auch die entgültige Biografie. Obwohl Kürmann die restliche Zeit ohne Vorschriften verbringen und sein Leben bewusst auf mögliche Versionen untersuchen kann, ist nach sieben Jahre keine andere Variante zugelassen, als der Tod.

Fraglich bleibt, ob Kürmann nach den folgenden sieben Jahren, die unweigerlich ohne Antoinette verlaufen müssen, am Ende zufriedener sein wird, als mit den sieben Jahren der ersten Biografie.

Wenn seine Erinnerung weiter dichtet, er die Verantwortung abschiebt oder seiner Spieluhr verfällt –wohl nicht.





Kürmann: Und jetzt?

Registrator: Jetzt sind Sie frei.

Kürmann: -Frei...[15]





































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[1] Bienek, Horst; Werkstattgespräch 1972

[2] Bircher, U. von: Mit Ausnahme der Freundschaft. Limmat Verlag 2000, S. 202

[3] Frisch meint, dass niemand von den geschichtlichen Gegebenheiten unberührt bleibt, d.h. die Zeit, die gegenwärtig ist, prägt ihn. Der Verlauf des Lebens lässt aber trotz der entsprechenden Epoche Varianten zu.

[4] Frisch, M. von: Biografie. Ein Spiel. Suhrkamp Verlag 1969, S. 119

[5] S. 15 ebda

[6] S. 29 ebda

[7] S. 119 ebda

[8] S. 119 ebda

[9] S. 8/9 ebda

[10] S. 17 ebda

[11] S. 45 ebda

[12] S. 67 ebda

[13] S. 88 ebda

[14] S. 101 ebda

[15] S. 118





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